Trotz Arbeit droht die Armutsfalle

■ In der „reichen“ Schweiz sind 60 Prozent der Armen jünger als 40, viele von ihnen haben häufig sogar eine Vollzeitstelle

„Über Geld spricht man nicht, Geld hat man“, lautet ein Sprichwort, dem im Land der Banken besonders eifrig nachgelebt wird. Was also tun jene Schweizer, die kein Geld haben und deswegen staatliche Stütze beanspruchen könnten? Sie schweigen. Allzu oft haben sie Hemmungen, einen Antrag zu stellen und das Geld abzuholen. Dies ist das Resultat der ersten gesamtschweizerischen Armutsstudie, die vor wenigen Tagen vorgestellt wurde. Ein Drittel der RentnerInnen, die Ergänzungsleistungen beziehen könnten, verzichten auf den Gang zur Amtsstube. Und fast die Hälfte jener, die Anspruch auf Fürsorge hätten, schämen sich und schummeln sich ohne Hilfe durchs Leben.

Was „arm“ heißt, wurde anhand der Einkommensgrenze bestimmt, unterhalb derer Ergänzungsleistungen bezogen werden können: 2.100 Franken für einen Einpersonenhaushalt. 680.000 Personen erreichen diese Schwelle nicht. Das sind 9,8 Prozent der Schweizer Bevölkerung. Dabei gibt es bemerkenswerte regionale Unterschiede: Während in der Deutschschweiz knapp fünf Prozent darunter fallen, ist es im gemeinhin als Sonnenstube apostrophierten Tessin jeder und jede Achte, der oder die in zu engen Wohnungen lebt und einen niedrigen Lebensstandard hat.

Wer glaubt, es seien vor allem Alte und Behinderte, die sich am Rand des Existenzminimums durchschlagen müssen, geht fehl. SeniorInnen weisen laut der Studie des Schweizerischen Nationalfonds sogar signifikant unterdurchschnittliche Armutsquoten auf. Hingegen sind 60 Prozent der Armen jünger als 40, besonders mies geht es denen unter 30. Die „working poor“ haben zwar eine Vollzeitstelle, doch ihr Salär hinkt den stark steigenden Lebenshaltungskosten bei Mieten und Krankenkassen hinterher – trotz Arbeit droht die Armutsfalle.

Auch das Gefälle zwischen Reich und Arm nimmt zu, die ungleiche Verteilung von Einkommen und Vermögen hat sich in den letzten Jahren weiter verschärft. „Heute besitzen die fünf Prozent der reichsten Steuerpflichtigen die Hälfte des Nettovermögens“, erklärt einer der Autoren, Robert E. Leu. Als Maßnahme schlagen die Verfasser neben der Steuerbefreiung der wirtschaftlich Schwächsten unter anderem vor, Lohnzuschüsse in Form von Krediten aus Steuergeldern zu gewähren.

„Völlig falsch“, kritisiert der Soziologe Ueli Mäder, Autor der 1991 erschienenen Basler Armutsstudie. Denn damit würden bloß die (zu) tiefen Löhne zementiert, während die Firmengewinne weiter wüchsen. Mäder kreidet den Autoren auch an, die schlechtverdienenden SaisonarbeiterInnen, GrenzgängerInnen und Asylsuchende ausgeklammert zu haben. Noch höher wäre die Zahl der Armen schließlich ausgefallen, wenn die Entwicklung seit der Datenerhebung im Jahr 1992 berücksichtigt worden wäre; sowohl die Zahl der FürsorgeempfängerInnen, als auch jene der Arbeitslosen hat sich seither verdoppelt. Pieter Poldervaart, Basel