Viktorianische Liebescodes

Wird und wird nicht Herrin im eigenen Haus: Charlotte Gainsbourg als „Jane Eyre“. Nach Orson Welles hat jetzt auch Franco Zeffirelli Charlotte Brontäs Liebesroman verfilmt  ■ Von Mariam Niroumand

Inzwischen sind sich alle einig, daß es nicht angeht, viktorianisch mit prüde zu übersetzen. Ein komplizierteres Spiel ist in Gang; erste Zwischendecken werden eingezogen, auch in die Vorstellungen von der Liebe. Zwar lautet die Parole: kein Sex vor der Hochzeit, aber nicht etwa deshalb, weil man sich andernfalls unschicklich verhält, sondern weil Liebe und Ehe endgültig in eins fallen sollen, jedenfalls bei Bürgern – der verkommene Adel mochte es anders halten. Nun ist aber, wie Luhmann dezent schreibt, Tugendhaftigkeit auch ein „Sexualbewußtsein“, aber eben ein geheimgehaltenes.

Der sanfte Druck in Richtung Ehe, der durch das zarte Erröten, die niedergeschlagenen Augen und die wohltemperierte Ohnmacht ausgeübt wird, ist den Protagonisten, Männern wie Frauen, nicht bewußt und darf es auch nicht sein. In Samuel Richardsons „Pamela“, dem prototypischen Liebesroman seiner Zeit, spürt der Leser eine schwindelerregende Lücke zwischen den elaborierten Beschreibungen physischer Attraktion und der faktischen Zurückhaltung der Akteure.

Worüber man nicht sprechen kann, darüber muß man eben schreiben: Charlotte Brontäs Roman „Jane Eyre“, geschrieben 1846 in Manchester bei ihrem Vater, folgte „Pamela“ nicht nur in seinem Aschenputtel-Motiv. Auch er war eine Art Kassiber für den neuen Liebescode, den schon studieren mußte, wer sich sicher durch Gesagtes und nicht Gesagtes durchnavigieren wollte. Im Untertitel hieß der Roman verheißungsvoll „Eine Autobiographie“, aber wenn es eine war, so nicht die Charlotte Brontäs.

Charlotte war das drittjüngste von sechs Kindern eines Pastors, der als Irishman Brunty geboren und erst in den Pfarrhöfen von Yorkshire zu Brontä wurde. Nach dem Tod seiner Frau und drei ihrer Kinder interessierte ihn kaum noch etwas. Die drei übriggebliebenen Mädchen ließen ihn einigermaßen kalt, nur für seinen einzigen Sohn konnte er sich noch engagieren. Auf einer Kreidezeichnung von George Richmond sieht Charlotte, nun die Älteste, skeptisch und leicht spöttisch in die Welt. Ihre Ähnlichkeit mit Charlotte Gainsbourg, die in Franco Zeffirellis Version von „Jane Eyre“ die Hauptrolle spielt, ist verblüffend.

„Jane Eyre“ ist die Schattenversion von Charlottes Leben. Offenbar ratlos hatte Pastor Brontä alle drei Schwestern auf ein Internat für Pfarrerstöchter geschickt, auf dem tatsächlich das Essen karg, die Schlafsäle kalt und die geistige Aufzucht protestantisch freudlos waren, aber nicht ganz so brutal wie in „Jane Eyre“. Die Tante, die im Film ihren Zögling Jane mit spitzen Fingern an dieses Institut ausliefert, muß im wirklichen Leben ziemlich entgegenkommend gewesen sein: Als Charlotte und ihre Schwester Emily in den vierziger Jahren eine Schule aufmachen wollten (nicht zuletzt, um die künstlerischen Ambitionen des Bruders finanzieren zu können), war sie voller Unterstützung und schickte die beiden sogar zum Deutsch- und Französischunterricht nach Brüssel.

Aber das angeschwärzte Leben schreibt sich leichter: Auf dem Internat werden Haare abgeschnitten, Schwindsüchtige fahren bleich zum Himmel, und die grausame Aufseherin (Geraldine Chaplin!) hat gerötete Augen im grauen Gesicht. Der Zuchtanstalt entflohen, nimmt die junge Jane eine Stelle auf dem Gut des undurchsichtigen Edward Rochester an, den William Hurt gänzlich von dem gewichtig-pompösen Sadismus befreit, den er bei Orson Welles 1943 noch hatte (Liz Taylor war Jane!). Eine Spannung entwickelt sich, die nicht zuletzt aus dem immer weiter klaffenden Gefälle von Gesagtem und Ungesagtem resultiert, es fällt einem wieder ein, daß der Roman ja auch als Thriller gelesen wurde.

„Jane Eyre“ geizt nicht mit zusätzlichen Gothic-Elementen. Nachts hört Jane es grell lachen, da huscht was und kreischt was – das Schloß hat ein Geheimnis, man wird und wird nicht Herrin im eigenen Haus. Franco Zeffirelli aber, dem man jederzeit die völlige Verkitschung der Geschichte mit rosa Lippen und Batistschleifchen und erlösenden Feuersbrünsten zugetraut hätte, präsentiert die Sache in den Farben eines David-Gemäldes: Holz ist dunkelbraun, Wald dunkelgrün, ein schönes Kleid dann aber weiß.

„Jane Eyre“. Regie: Franco Zeffirelli. Drehbuch (nach dem Roman von Charlotte Brontä): Hugh Whitemore. Mit Charlotte Gainsbourg, William Hurt, Maria Schneider u.a., USA 1996, 108 Min.