Juristisches Neuland

■ Absurdes Nachspiel zur Affäre um die Online-Ausgabe der Zeitschrift "radikal": Jetzt stehen die Hyperlinks vor Gericht

Was ist ein Link? Die Frage beschäftigt Anwälte. Die meist in blauer Farbe und unterstrichen angezeigten Zeichen auf dem Bildschirm sind gerichtsnotorisch geworden. Eigentlich dienen sie nur dazu, von einem Dokument zum anderen zu springen. Aber mit derart eleganten Lösungen von Kommunikationsproblemen geben sich Juristen so schnell nicht zufrieden. Schon gar nicht in Deutschland.

Letzte Woche hat der Hennefer Anwalt Michael Schneider (http:// www.anwalt.de/) sich selbst angezeigt. Er hatte im letzten Jahr für kurze Zeit einen Link zur Homepage der damaligen PDS-Vorständlerin Angela Marquardt auf seine eigene Website gesetzt. Ein glatter Verstoß gegen deutsche Gesetze, so hat Rechtsanwalt Schneider jetzt erkannt, jedenfalls dann, wenn die Gerichte der gegenwärtig vorherrschenden Rechtsauffassung diverser Staatsanwaltschaften folgen.

Ob das so ist, will Schneider nun im Selbstversuch herausfinden. In einem Brief schreibt er an das Amtsgericht Berlin-Tiergarten: „Ich fordere Sie unter Hinweis auf das Legalitätsprinzip auf, nunmehr auch gegen mich zu ermitteln.“

Juristen unter sich. Das Berliner Amtsgericht Tiergarten, des Wohnorts der Delinquentin wegen dafür zuständig, erhob Anfang des Jahres Anklage gegen Angela Marquardt. Die PDS- Politikerin, so lautet der Tatvorwurf, verbreite „rechtswidrige Schriften“ im Internet. Tatsächlich: Auf ihrer Homepage (http://yi.com/home/ MarquardtAngela/) steht ein Link zur Online-Ausgabe der Zeitschrift radikal.

Mit der Redaktion dieses Blattes spielt die deutsche Justiz seit Jahren Katz und Maus, seit neustem auch online. Die Tatvorwürfe werden stets mit den einschlägigen Terrorismus-Paragraphen begründet. Kurz vor Weihnachten war in Holland ein mutmaßlicher radikal- Mitarbeiter wie ein Schwerverbrecher festgenommen worden. Im Herbst davor hatte die Bundesanwaltschaft deutsche Internet-Provider aufgefordert, den Zugang zum Rechner des niederländischen Providers XS4ALL zu sperren, auf dessen Server die Online-radikal liegt.

Durch das Internet ging ein Proteststurm. Eines seiner Opfer war Michael Schneider, Mitbegründer der sogenannten Internet Task Force. Auf seine Anweisung hin hatten einige kleinere deutsche Internet-Provider tatsächlich den niederländischen Rechner blockiert. Schneider hatte große Mühe, seine Zwangslage zu erklären – der Bundesawalt hatte ihn nur informell auf mögliche Ermittlungen hingewiesen.

Der Zensurversuch verschaffte dem Blatt eine ungeheure Publizität im Netz. Auf über 50 Servern wurden „Spiegel“ genannte Kopien angelegt – kein Problem also für die Berliner Staatsanwaltschaft, ebenjene Artikel im Netz zu finden, die nun auch sie als „Anleitung zu Straftaten“ betrachtet. Es handelt sich um harmlose Ratschläge zur Behinderung des Bahnverkehrs, nachzulesen unter http://www.xs4all.nl/~tank/ radikal/154/94.html.

Doch um die Abwehr tatsächlicher Gefahren geht es schon lange nicht mehr. Auf allen Seiten wird ums Prinzip gestritten. Eine Art Kulturkampf um das Internet, der immer absurder wird, seit die deutsche Justiz angefangen hat sich mit dem Netz der Netze zu beschäftigen.

Die Berliner Staatsanwaltschaft scheint jedenfalls fest entschlossen, ihren Prozeß durchzupauken. Auch Angela Marquardt betrachtet das Verfahren als Präzedenzfall und fordert, „daß Internet-Experten angehört werden“. Die PDS hat finanzielle Unterstützung für das Verfahren zugesagt.

Mit seiner Anklage begibt sich die Berliner Justiz auf juristisches Neuland. Wie schwankend der Boden ist, ahnt sie wahrscheinlich noch gar nicht. Sie muß nämlich nachweisen, daß ein Internet-User rechtliche Verantwortung für die Inhalte einer WWW-Seite trägt, mit der er seine eigene Homepage „verlinkt“ hat. Nur dann wäre der „Radi-Link“ auf der Homepage der Marquardt eine Beihilfe zur „Anleitung zu einem gemeingefährlichen Vergehen“.

Angela Marquardt liefert obendrein besonders schwaches Beweismaterial. Auf ihrer Homepage hatte sie nämlich den Inhalt der radikal kritisiert. „Ich distanziere mich von den Anschlägen, über die in der Radikal berichtet wurde. Aber ich halte nichts davon, die Diskussion darüber zu verbieten“, heißt es in einem Text, der heute ihrem „Radi-Link“ vorgeschaltet ist.

Wenn die Staatsanwaltschaft trozu allem recht behalten sollte, dann würde im Internet nichts bleiben, wie es im Augenblick ist. Schneiders Selbstanklage trifft den wunden Punkt sehr genau. Dann müßte in Zukunft nämlich jeder Link in regelmäßigen Abständen daraufhin überprüft werden, ob sich unter verknüpften Adressen eventuell rechtswidriges Material befindet – eine offensichtiche Absurdität.

Selbst die Anbieter von Internet-Suchmaschinen hätten dauernd die Staatsanwaltschaft im Haus. Wer zum Beispiel im überaus populären Yahoo-Verzeichnis nach dem Stichwort „Radikal“ sucht, findet diverse Links zu der Online-Ausgabe der Zeitschrift. Heißt das, daß sich nun auch Yahoo, eine Tochterfirma des renommierten Ziff Davis Verlags, demnächst vor einem deutschen Gericht für die „Verbreitung von rechtswidrigen Schriften“ verantworten muß?

Wohl kaum. Eine deutsche Justizbehörde bereitet gerade ihre nächste Blamage vor. Sie wird sich hüten, den Internetexperten Schneider tatsächlich auf die Anklagebank zu setzen. Laut Auskunft des Pressesprechers des Berliner Amtsgerichts hat seine Behörde nämlich gar keinen Online- Anschluß. Auch die Anklageschrift deutet darauf hin, daß die Staatsanwaltschaft keine Erfahrung im Umgang mit dem Internet hat: In ihr fehlt zum Beispiel jeder Hinweis auf die Quelle, aus welcher der Staatsanwalt Passagen aus der radikal zitiert.

Stammen diese von der Homepage von Angela Marquardt? Oder aus der radikal, die auf dem Server des holländischen Internet- Providers XS4ALL liegt? Von einem der über 50 Mirrorsites, die es in der ganzen Welt, auch in Deutschland gibt? Oder aus der gedruckten radikal?

Man darf gespannt sein, wie der Staatsanwalt vor Gericht seine Beweismittel, die ja nur digitalisiert im Internet existieren, vorführen wird: Wird er einen Computer mit Internetzugang im Gerichtssaal aufstellen? Oder haben die zitierten Passagen auch als Ausdruck auf Papier Beweiskraft?

Ob die Online-radikal überhaupt gegen geltendes Recht verstößt, ist freilich unklar: Im Gegensatz zum gedruckten Heft fehlen in der WWW-Ausgabe einige entscheidende Fotos: Die Bilder, die zeigen, was man zerstören muß, um den Bahnverkehr zu blockieren, sind gelöscht worden.

Ein weiteres juristisches Problem, das der Fall Marquardt aufwirft: Ihr Link zur radikal ist keineswegs der einzige, den es auf deutschen Internetservern gibt. Ein kurze Suche mit den gängigen Suchmaschinen ergab, daß es mindestens 20 „Radi-Links“ auf den Rechnern von deutschen Universitäten, bei T-Online, CompuServe und anderen Online-Diensten und Internet-Providern gibt. Es stellt sich daher die Frage, warum diese Internet-User nicht ebenfalls angeklagt worden sind.

So entsteht der Eindruck, als ob an der PDS-Politikerin ein Exempel statuiert werden soll: Konservative Politiker wie der Berliner Innensenator Jörg Schönbohm (CDU) fordern schon seit langem, daß die PDS vom Verfassungsschutz beobachtet werden soll. Angela Marquardt beurteilt das Verfahren gegen sie als einen „politischen Prozeß“, über den die ganze PDS kriminalisiert werden soll. In der Tat wird in der Anklageschrift die 25jährige Studentin als „stellvertretende Bundesvorsitzende der PDS“ bezeichnet – aus diesem Amt hat sie der letzte Parteitag aber gerade abgewählt. In der letzten Woche versuchte die Berliner Staatsanwaltschaft deshalb, andere Vorwürfe nachzulegen. Sie will das radikal-Verfahren mit einem anderen Prozeß gegen Angela Marquardt zusammenlegen. Bereits seit längerem ist gegen sie ein Verfahren anhängig, das die rechte Wochenzeitung Junge Freiheit wegen „Billigung und Belohnung von Straftaten“ gegen sie angestrengt hat. In einem Interview mit der Wochenpost hatte sie sich mißverständlich über einen Anschlag auf die Druckerei der Zeitung geäußert.

„Wahrscheinlich weiß der Staatsanwalt, wie dünn beide Anklagen sind, und will durch die Zusammenlegung überhaupt erst ein Urteil erzielen“, sagt Angela Marquardt. Ihr Rechtsanwalt will die Zusammenlegung der beiden Verfahren verhindern. Bei Redaktionsschluß stand noch nicht fest, ob der Prozeß wie geplant in der kommenden Woche eröffnet wird. Tilman Baumgärtel

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