Kurdistan-Syndrom

Türkische Soldaten kehren aus dem Krieg oft mit psychischen Schäden zurück  ■ Von Gunnar Köhne und Klaus Scherer

Es gab so viele Zeichen, daß Ali Riza nicht mehr leben wollte. „Aber wir haben sie nicht verstanden“, sagt der Vater. Da waren zum Beispiel diese merkwürdigen Äußerungen, eines Tages draußen bei der Feldarbeit. Plötzlich sagte Ali Riza: „Vater, was soll ich hier eigentlich? Ich muß zurück zu meinen Freunden.“ „Ich dachte, er wollte zurück zum Militär“, sagt Hüsmettin Eker, die müden Augen voller Tränen: „Dorthin kannst du nicht zurück.“ Am 3.Oktober 1996 verließ Ali Riza dennoch seine Familie, sein Dorf Mahmudiyeköy, seine Verlobte und den neuen Traktor, den ihm sein Vater nach seiner Rückkehr gekauft hatte, und ging im Alter von 21 Jahren zu seinen „Freunden“: Mit seinem Jagdgewehr schoß er sich eine Kugel in den Kopf.

Ali Riza Eker gehört zu den anderen Opfern des erbarmungslosen Bürgerkrieges zwischen der türkischen Armee und der PKK, der bislang mehr als 21.000 Todesopfer gefordert hat: Traumatisierte Soldaten, die nach ihrer Rückkehr aus dem Kriegseinsatz mit dem Tod und der Erfahrung, selbst töten zu können, nicht fertig werden. Davon sind besonders die jungen Rekruten betroffen, die, kaum ausgebildet, für 18 Monate in die blutige Auseinandersetzung geschickt werden. Die Möglichkeit, den Militärdienst zu verweigern, gibt es in der Türkei nicht. „Ihr Sohn ist mit dem Krieg noch nicht fertig“, hatte eine Nervenärztin den Eltern von Ali Riza gesagt. Sie fühlen sich, wie Ali Riza, schuldig, überlebt zu haben, sie leiden unter „Reizbarkeit und Wutausbrüchen“, „Schlafstörungen“, und sie haben keinen „Zukunftsglauben“ mehr. Genau so, wie es in einer vertraulichen Studie der türkischen Militärakademie für Medizin zu lesen, die dem NDR- Fernsehmagazin „Panorama“ in Auszügen vorliegt. Titel: „Untersuchungen über posttraumatische Streß-Störungen im Zusammenhang mit dem Konflikt“.

Die Untersuchung stützt sich auf Psychiatrie-Patienten des Militärkrankenhauses in Ankara. Das Eingeständnis verblüfft, denn nach dem Willen des türkischen Generalstabs durften über den zwölf Jahre währenden „Konflikt“ bislang nur Erfolgsmeldungen im Kampf gegen die „Terroristen“ verkündet werden. In dieser Studie versuchen die Militärärzte denn auch nachzuweisen, daß viele der Betroffenen bereits während der „Pubertät Alkoholprobleme“ hatten oder psychische Probleme in deren Familien häufig vorkämen.

Aber es geht nicht nur um das Problem einiger „Waschlappen“. Gut die Hälfte der Zigtausenden Wehrpflichtigen, die die Türkei jedes Jahr in die Armee einzieht, werden in den umkämpften kurdischen Regionen eingesetzt. Häufigste Diagnose der Militärstudie ist, bei 27,8 bis 46,4 Prozent der untersuchten Patienten, „antisoziales Verhalten“. Bei 13,2 Prozent werden „schwere Angstzustände“ festgestellt. Dies entspreche dem Anteil in US-Militärkrankenhäusern nach dem Vietnam-Krieg. Eine offizielle Stellungnahme zu der Studie gab es nicht.

Mehmet* ist seit Ende seiner Militäreinsätze vor vier Jahren arbeitslos. „Ich habe Angst, auf die Straße zu gehen, ich denke, daß mich jeder umbringen könnte. Darum habe ich auch keine Arbeit: Nach einem Tag auf der Arbeitsstelle bekomme ich wieder diese Panik.“ Mehmet hatte einen guten Freund sterben sehen: „Ich habe nur noch gehört, wie er gerufen hat: Mehmet, hilf mir. Als ich dann zu ihm kam, war er schon tot. Daraufhin habe ich dann zum ersten Mal diese Krise bekommen, ich habe am ganzen Leib gezittert. Dann haben sie mich mit dem Hubschrauber in ein Krankenhaus gebracht. Die Kommandeure haben nur gesagt: Schafft den hier weg. Niemand hat sich dort um mich gekümmert.“

Die meisten ehemaligen Soldaten, die „Panorama“ ihre Kriegserlebnisse geschildert haben, kommen aus unteren Schichten der Gesellschaft. Für Therapien und Medikamente erhalten sie keinerlei staatliche Unterstützung. Mehmet bekommt von der Armee alle drei Monate 30 Mark. Eine Packung seiner Pillen kostet allein fünf Mark. Als Halil* seine Krankenhauskosten nicht mehr bezahlen konnte, kamen die Gerichtsvollzieher zu der Hütte, in der der 35jährige zusammen mit seiner Mutter und fünf Geschwistern in einem einzigen Raum lebt. „Aber als sie gesehen haben, es gibt hier gar nichts zu pfänden, sind sie wieder gegangen“, sagt die Mutter. Halil war vor elf Jahren als einer der ersten im Kurdenkrieg. Auch elf Jahre danach stellt er sich manchmal immer noch vor, er sei auf einem Wachposten. „Dann beginnt dieses Zittern.“

Gegen seine schwere Psychose bekommt er Beruhigungsmittel, zuweilen auch Elektroschocks. Stolz, ein Soldat gewesen zu sein, ist Halil auch heute noch.

Stolz war auch Vater Hüsamettin Erker als sein Sohn Ali Riza zum Militär ging. Das ganze Dorf war auf den Beinen, als er gemeinsam mit 17 anderen losfuhr. Heute bekommt der Vater eine Gänsehaut, wenn er im Fernsehen die Nachrichten über „erfolgreiche Operationen“ sieht. Wie so eine Operation aussieht, hatte Ali Riza noch stolz in einem Brief an einen Freund geschildert: „Es war wie in einem Weltkrieg. Der Kolben meines Gewehrs ist so heiß geworden, daß ich mir die Hände verbrannt und im Schnee abgekühlt habe. Danach konnte ich ihn erst auswechseln. Ich habe 1.600 Kugeln abgefeuert, Rambo ist nichts im Vergleich zu uns in diesem Krieg. In den Richtungen, in die in geschossen haben, wurden in den nächsten Tagen immer wieder Leichen gefunden.“ Später saß Ali Riza oft auf dem Sofa, hat auf den Friedhof geblickt und geweint. Bei Regen hat er sich zu seinem Bruder ins Bett gelegt. Als der ihn fragte, was los sei, hat er ihm erzählt, ein Freund von ihm sei bei Regen auf eine Mine getreten und dann in seinen Armen gestorben. Sonst hat Ali Riza über den Krieg wenig geredet. Nur einmal hat er seinem Vater entgegengeschrien: „Begreifst du nicht, ich habe 35 Menschen getötet! Die waren doch Menschen wie du und ich!“ Nächstes Jahr wird Hüsamettin Erkers zweiter Sohn einberufen.

Der Bericht wird heute abend im NDR-Magazin „Panorama“ gesendet. ARD, 21 Uhr

* Name von der Red. geändert