Das Dorf, auf dem die Hand draufliegt

Im mecklenburgischen Alt Rehse schulten die Nazis ihre Ärzte und machten es zum Musterdorf. Jetzt will die Kassenärztliche Vereinigung das Gut und die Äcker wiederhaben. Die Alt Rehser wehren sich  ■ Von Jens Rübsam

Die ganze Nacht hat er nicht schlafen können. Er ist durchs Haus gelaufen. Er hat die wichtige Rede gelesen, einmal, zweimal. Er hat zu seiner Frau gesagt: „Das wird ein großer Tag für Alt Rehse.“ Dann hat er den ersten Satz seiner wichtigen Rede umgeschrieben, einmal, zweimal. Am nächsten Morgen um zehn steht er auf dem Podest, hinter ihm die Kapelle in Mecklenburger Tracht, um ihn herum das Volk, 330 Alt Rehser und der Ministerpräsident. Neben dem Kriegerdenkmal vor der Kirche lagert eine Bratwurstbude. Gegenüber, am Teich, werden Münzen verkauft: „Alt Rehse ist endlich frei“. Nachmittags wird getanzt in der Wirtschaft „Rethra“, und nachts wird getanzt auf der Straße. Die Zeitung schreibt: „In Alt Rehse steigt die größte Fete aller Zeiten.“ Und Bürgermeister Köpp kann wieder schlafen.

So wird es sein. Noch in diesem Jahr. Köpp hat alles schon organisiert.

Noch ist in Alt Rehse (Müritzkreis) alles ein wenig anders. Die Dörfler liegen im Clinch mit der Kassenärztlichen Vereinigung Mecklenburg-Vorpommern (KV). Gestritten wird um das 500 Hektar große Gut Alt Rehse, gefeilscht wird um Grund und Boden, um die Fachwerkhäuser und den Park, um das Schloßgelände und die einstige Reichsärzte-Führerschule.

Im Auftrag der Deutschen Kassenärztlichen Vereinigung hat der Hartmann-Bund 1933 Alt Rehse gekauft. Ein Jahr später wurde der Ort enteignet. Das Dorf wurde abgerissen und als sogenanntes Gau- Musterdorf neu gebaut. Auf dem abgeschirmten Schloßgelände entstand die „Führerschule“ der deutschen Reichsärzteschaft. Von 1935 an wurden hier Tausende von Medizinern, Hebammen, Apothekern und Nazi-Funktionären auf die faschistische Bevölkerungspolitik eingeschworen: auf Massensterilisationen, das „Töten unwerten Lebens“ und Selektionen in Konzentrationslagern. Nazi-Größen wie Bormann, Himmler und Rosenberg gingen in Alt Rehse ein und aus. Seit den 50er Jahren nutzte die NVA das Schloßgelände, es blieb bis zur Wende für die Bevölkerung gesperrt.

Günther Radloff will endlich seine Ruhe haben

Ausgerechnet auf Alt Rehse also meldete die Kassenärztliche Vereinigung Mecklenburg-Vorpommern nach der Wende Rückübertragungsansprüche an, als Rechtsnachfolgerin der Reichsärztekammer. Es geht schließlich um eine Millionen-Immobilie. Gerichte wurden beschäftigt: Zuletzt das Verwaltungsgericht Greifswald, das die Ansprüche der KV abwies; dann das Bundesverwaltungsgericht Berlin, das das Verfahren zurück nach Greifswald verwies. Das Urteil steht noch aus.

Der Thierfelder“, raunzt Günther Radloff, „der Thierfelder hat uns geschunden.“ Der habe alles zurückhaben wollen. Auch die reetgedeckten Einfamilienhäuser, die nach 40 Jahren DDR wieder die Namen der alten Gau-Bezirke „Württemberg“, „Sachsen“ und „Hessen“ tragen. Günther Radloff wohnt im Haus „Westfalen“.

Thierfelder übersetzen die Alt Rehser mit Haß. Dietrich Thierfelder war bis vor kurzem Vorsitzender der KV Mecklenburg-Vorpommern und trotz aller Proteste – auch aus den eigenen Reihen – nicht davon abzubringen, die Ansprüche fallenzulassen. Nun ist der Thierfelder nicht mehr. Er wurde abgewählt. Der neue Vorsitzende Wolfgang Eckert hat signalisiert, die Altansprüche auf das Gelände der ehemaligen Reichsärzteschule zu begrenzen und das Bodenreformland der Einwohner nicht anzutasten.

Dennoch, die Nerven der Alt Rehser liegen blank. Das Damoklesschwert, sagen sie, werden wir anscheinend nie los: Von den Nazis für deren furchtbare Ärzte auserkoren, von der NVA mit einem „militärischen Objekt“ beschwert, und nun, nach der Wende, von der KV mit Besitzansprüchen drangsaliert.

Der Bürgermeister will den alten Dorfkrug renovieren

Der Dorfteich ist zugefroren, auf dem neuen Spielplatz tummeln sich Krähen. Der „Kaufmannsladen“ hat den halben Tag zu, der Landgasthof „Rethra“ montags und dienstags ganz. „Mehr lohnt sich einfach nicht im Winter“, sagt Inhaber Adolf Ott. Die andere Wirtschaft, der „Dorfkrug“, ist seit zweieinhalb Jahren geschlossen. „Nicht allein wegen der Rückübertragungsansprüche der KV, sondern auch wegen der unverschämten Forderungen des Bundesvermögensamtes“, meint Bürgermeister Köpp. Zuerst sollte der „Dorfkrug“ 125.000 Mark kosten, jetzt liegen die Forderungen bei 75.000 Mark. „Immer noch zu viel, wenn ein Käufer gut 300.000 Mark für die Sanierung reinstecken muß.“ Hätte Bürgermeister Köpp genügend Geld in der Gemeindekasse, er hätte den „Dorfkrug“ längst gekauft – und „was Ordentliches draus gemacht“.

Aber Köpp hat kein Geld.

Da ist er, der ganze Frust und Ärger, der Alt Rehse aus der Ruhe gebracht hat. Vieles ist aufgrund der Besitzansprüche der KV liegenblieben. Investoren kamen nicht oder nur zögerlich. Wer wollte schon dieses Wagnis eingehen? Bürgermeister Köpp will nur ein Beispiel nennen: das Bauvorhaben Gutshof. 33 Fachwerkhäuser sollen dort entstehen, wo früher LPG-Ställe waren, im Dorf auch „Rattenfanganlage“ genannt. Bauträger ist die Projektmanagement GmbH Neubrandenburg. Die Gemeinde hat die Liegenschaft von der Treuhand gekauft und sie weitergereicht an einen Investor. „Wir waren glücklich, jemanden gefunden zu haben, der auch die Abrißkosten übernahm“, klopft sich Köpp auf die Brust. Nun stehen die ersten Häuser, und die Projektmanagement GmbH ist auf der Suche nach Käufern. Genügend Interessenten, die in Alt Rehse wohnen möchten, gibt es, aber wer wolle schon einen Vertrag mit dem Passus „vorbehaltlich der Restitutionsansprüche der Kassenärztlichen Vereinigung“ unterschreiben? Selbst Kunden, die schon beim Notar saßen, sind abgesprungen. Den bisher entstandenen Schaden für den Investor schätzt Köpp auf drei Millionen Mark.

Trotz der Querelen, erzählt Wolfgang Köpp jedem, auch dem, der ihn nicht danach gefragt hat, trotz der Querelen sei es ein Stück bergauf mit Alt Rehse gegangen. Ein sechs Kilometer langer Naturlehrpfad wurde angelegt, zehn Kilometer Alleen wurden gepflanzt, für 8.000 Mark wurden Hecken in Ordnung gebracht, und im Wettbewerb „Unser Dorf soll schöner werden“ ergatterte Alt Rehse vor zwei Jahren die Goldmedaille. Ein Umweltbeauftragter wurde eingesetzt, „einmalig in Mecklenburg- Vorpommern“, und ein dörferübergreifender Arbeitsförderungsverein wurde gegründet. 130 Leute haben hier eine Beschäftigung gefunden, zwar meist über ABM, aber immerhin. Daß das Limnologische Institut, 1992 für fünf Millionen Mark gebaut, Ende März schließen wird, ist ein Wermutstropfen in der Dorfentwicklung. „Aber“, will Institutsleiter Karl-Ernst Nowack ehrlich sein, „das hat nichts mit den Ansprüchen der KV zu tun, vielmehr mit der unerwartet schlechten wirtschaftlichen Entwicklung.“ Bekam das Institut 1992 für eine Wasser- oder Altlastenanalyse noch 100 Mark, „sind es jetzt höchstens 45“. Für die Immobilie („ehemals ein Schweinestall“) sucht Nowack jetzt einen Käufer.

Und die Alt Rehser wollen dieses Jahr ein Fest feiern

Auf der Suche sind sie alle. Günther Radloff beispielsweise, der Ruhe sucht, der sich nicht mehr sorgen will. Viel Geld hat er in sein Haus gesteckt, allein für die Reparatur des Schilfdaches 30.000 Mark bezahlt. Heizung und sanitäre Anlagen neu, „da kommt schon was zusammen“. Nach der Wende hat er noch einmal investiert und drei Ferienwohnungen gebaut. Zwischen 60 und 70 Mark kostet die Nacht im „Haus Westfalen“. Soll das alles umsonst gewesen sein? hat sich Günther Radloff in der letzten Zeit oft gefragt. Jetzt steht er am Gartenzaun, rückt die alte NVA-Mütze zurecht, beeilt sich zu sagen: „Damit Sie das nicht falsch verstehen, ich habe in der Pflanzenproduktion gearbeitet“, kramt aus der Trainingshose eine Schachtel R6 und beantwortet seine Frage schließlich selbst: „Nein, das darf nicht alles umsonst gewesen sein.“ Er murmelt noch was von der Bodenreform, die unantastbar sei, von seinem Haus, das ihm gehöre, und von der KV, die hier nichts zu suchen habe.

Stunden später steht Günther Radloff noch immer am Gartenzaun. Er wartet auf die Leute vom WDR, die heute im Dorf filmen und Alt Rehser „zum Problem“ befragen wollen. „Ich kann denen was erzählen.“ Auch Bürgermeister Köpp wartet. Köpp ist ein schwatzhafter Mann, der sein Jägerkostüm auch dienstags trägt, weil er „ein Jäger aus Leidenschaft“ ist. Erst letztens hat er wieder eine Sau geschossen, das Fell hat er aufgespannt, draußen, vor seinem Haus „München“, an einem Baum. Alle sollen an seinem Glück teilhaben können.

Im Hausflur stapeln sich unverkäufliche Broschüren, die „Ein Dorf in Licht und Schatten“ heißen. Köpp ist Ortschronist und Laienschreiber, er ist auch Amtsvorsteher von Penzlin, „ehrenamtlich natürlich“; ehrenamtlich regiert er auch Alt Rehse. „Eigentlich wollte ich gar nicht Bürgermeister werden.“ Er wollte sich zur Ruhe setzen nach 35 Jahren als Tierarzt. Vielleicht noch Germanistik studieren und Erzählungen unter Titeln wie „Die Jagd in Mecklenburg-Vorpommern in drei Jahrzehnten“ verfassen. Er wurde Bürgermeister und ein Kämpfer für den Ort.

Wenn die Kassenärztliche Vereinigung nun Ruhe gibt, wird er sich dann zur Ruhe setzen? Was für eine Frage! Köpp ist nicht der Mann, der jahrelang kämpft und den Lorbeer anderen überläßt. „Ich will Entwicklung.“ Der „Dorfkrug“ soll wieder der „Dorfkrug“ werden, „den brauchen die Leute“. Ein Konzept hat er selbst ausgearbeitet. Weil die anderen nichts Vernünftiges zu Papier gebracht haben. Köpp will, daß der Wohnungsbau vorangeht, daß Alt Rehse bald 500 Einwohner hat. Köpp will, daß die drei Dorfteiche zu drei Nutzungsteichen umfunktioniert werden.

Köpp will so vieles und vor allem eines: eine große Fete, noch in diesem Jahr.