■ Warum die Erfurter Erklärung im Osten auf breite Resonanz stößt und im Westen fast nur müde belächelt wird
: Rosarote Wunder

Ein Blick auf die üblichen Verdächtigen unter den Autoren der Erfurter Erklärung reichte den meisten Kommentatoren, um ihr Urteil zu fällen. Spöttisch sprachen manche von der „Kirchentagsbrigade“. Konservative Zeitgenossen sahen „gescheiterte sozialistische Ideologie“ am Werk.

Dabei hatten die mehr als 30 Intellektuellen und Gewerkschafter nur zu Papier gebracht, was in der Opposition zum guten Ton gehört. Die Politik der Bundesregierung sei „gnadenlos ungerecht“, da helfe nur ein „Machtwechsel“ in Bonn. Nur plädierten die mehrheitlich linkssozialdemokratischen Autoren dafür, sich dabei notfalls nicht auf Rot-Grün zu beschränken. Statt dessen schlossen sie, mit dürftigen Erwartungen an die innerparteiliche Entwicklung, auch die PDS in ihr Stoßgebet ein. Aus Wörlitz und Berlin signalisierte das politische Establishmeht energisch, daß damit ein Tabu der Bonner Republik gebrochen wurde, denn in Bonn wird die Macht 1998 ohne die PDS verteilt.

Doch wer die Erfurter Erklärung lediglich als Geschwätz gefrusteter Intellektueller abtut und routiniert zur westdeutschen politischen Tagesordnung übergeht, der wird in den neuen Bundesländern noch sein rosarotes Wunder erleben. Dort, zwischen Stralsund und Suhl, wird lebhaft über die Erfurter Erklärung debattiert. In den ostdeutschen Landesverbänden der Gewerkschaften ist Zustimmung zu hören. Der thüringische SPD-Landeschef Richard Dewes begrüßte die Erklärung, für Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reinhard Höppner ist sie zumindest eine gute Grundlage, „mal zu diskutieren“.

Sieben Jahre nach dem Fall der Mauer haben sich Ost- und Westdeutsche auseinandergelebt. Der Ost-West-Konflikt wird von immer mehr Menschen als wichtigster gesellschaftlicher Konflikt wahrgenommen. Im Osten halten ihn inzwischen fast 80 Prozent, im Westen über 60 für „stark“ oder „sehr stark“. Auch politisch ist das Land gespalten. Reformpolitik buchstabiert sich im Westen rot- grün, im Osten hingegen sind andere Mehrheiten ohne die PDS nicht zu haben. Beide Optionen lähmen sich gegenseitig, die oppositionelle Dreieckskiste ist festgefahren. Aber nicht nur die Machtkonstellationen unterscheiden sich grundlegend, sondern auch die Erwartung an Politik.

Seit Willy Brandt „mehr Demokratie wagen“ wollte, haben neun Jahre Schmidt und 14 Jahre Kohl alle westdeutschen Anhänger eines linken Reformbündnisses desillusioniert. Das Prinzip Kohl regiert. Die Mehrzahl der Westdeutschen mißtraut allen grundlegenden Veränderungen. Die Angst vor dem, was nach dem Weiter-so- Kanzler kommen könnte, die Ahnung, daß jede tiefgreifende soziale und ökologische Reformpolitik für viele auf der Sonnenseite der Zweidrittelgesellschaft ihren Preis hat, ließ sie bislang lieber auf den altbewährten Aussitzer setzen.

Sieben Jahre nach der Wende bedeutet „Weiter-so“ im Osten der Republik hingegen den endgültige Abschied von der 1990 versprochenen nachzuholenden Modernisierung. Nachdem der Osten von Grund auf umgekrempelt wurde, droht jetzt der Absturz Ost. Die ökonomische Entwicklung hat sich von der Westdeutschen abgekoppelt, ein ostdeutsches Mezzogiorno droht. Und die Bundesregierung will zudem die besondere Förderung für die neuen Bundesländer auslaufen lassen. Der Solidaritätszuschlag wird verschwinden, ABM-Maßnahmen werden radikal reduziert, die Verkehrsprojekte deutsche Einheit auf die lange finanzielle Bank geschoben.

Die Ossis, die den Glauben an eine gerechte Welt nicht einfach aufgeben wollen, ahnen, was ihnen blüht. Händeringend wenden sich ostdeutsche CDU-Politiker an den Kanzler, er möge die neuen Bundesländer nicht abschreiben. Seit Monaten ist die CDU dort im Stimmungstief. Die Opposition allerdings kann bislang kaum davon profitieren. Die SPD ist in den neuen Bundesländern gefangen zwischen einem Grundsatzstreit über die PDS und den ungeliebten Großen Koalitionen in Berlin, Erfurt und Schwerin. Die wenigen ostdeutschen Bündnisgrünen drohen mehr und mehr zwischen CDU auf der einen sowie SPD und PDS auf der anderen Seite zerrieben zu werden. Und die PDS kann ihr Wählerpotential – 20 bis 25 Prozent – optimal mobilisieren.

Die CDU, die sich gern als Partei der Einheit präsentiert, spaltet die Republik. Aber nur noch im Westen läßt sich mit dem Zerrbild einer kommunistischen PDS Angst und Schrecken verbreiten. Seit einige bewegte DDR-Bürger die Fronten gewechselt haben, sind die Gräben noch tiefer geworden. Kronzeugen für die „Einheit statt Sozialismus“-Kampagne sind unter anderen Rainer Eppelmann und Günter Nooke. Beide haben offenbar verdrängt, daß der „Demokratische Aufbruch“, dessen Gründungsmitgliedschaft sie sich rühmen, im Herbst 1989 noch lernen wollte, „was Sozialismus für uns heißen kann“.

Auch zu den Unterzeichnern der Erfurter Erklärung gehören einige bürgerbewegte Aktivisten der Wende. Sie wollen nun die PDS einbeziehen. Dies ist die logische Konsequenz, schließlich hat ein Teil derjenigen SED-Mitglieder, die sich heute in der PDS organisiert hat, mehr zum Sturz der Politbüro-Diktatur beigetragen als alle CDU-Blockflöten zusammen. Die Erfurter Erklärung nimmt aus ostdeutscher Sicht Hintzes Fehdehandschuh auf und polarisiert die Gesellschaft ihrerseits.

So könnte die Erklärung rosa- roten Bündnissen in den ostdeutschen Ländern den Weg bereiten. Wenn die Erfurter Erklärung aber kein billiger Abklatsch des Kohlschen Wohlstandsversprechen werden soll, müssen sich die Autoren mehr einfallen lassen, als eine „Stärkung der Binnennachfrage“ oder „Arbeitszeitverkürzung mit angemessenem Lohnausgleich“ zu fordern und billig auf das private Vermögen in Billiardenhöhe zu verweisen.

Mit der Formulierung von handfesten und finanzierbaren Reformschritten würden sich bei den Machtspielen, ob ostdeutsch oder westdeutsch dekliniert, die Fronten klären. Die PDS müßte sich bekennen, ob sie für mehr Nostalgie und Populismus zu haben ist, die SPD wäre gezwungen, sich zwischen Großer Koalition und Opposition zu entscheiden. Die Gewerkschaften schließlich müßten ihren Mitgliedern nahebringen, daß zum Beispiel die Verteidigung steuerfreier Nachtzuschläge viel mit Besitzstandswahrung, aber wenig mit Reformen zu tun hat. Die Gefahr, daß dann alle großen und kleinen Reformvisionen platzen, ist groß. Aber billiger ist eine Alternative zu Kohl nicht zu haben. Christoph Seils