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„Durch Deutschland immer geradeaus“

■ Überlebt im Versteck: Drei holländische Juden zum Holocaust-Gedenktag in Bremen Von Jochen Grabler

taz: Wie haben Sie drei sich kennengelernt?

Kats: 1992, im August.

de Jong: Ich kann mich gut erinnern – an meinem Geburtstag.

Walvisch: Ich hatte mich erst kurz entschlossen, zu dieser Konferenz zu gehen.

Was war das Thema?

Kats: Zu untergetauchten jüdischen Kindern. Das hat zum ersten Mal in Holland stattgefunden. Ein Jahr zuvor hat es in New York ein ähnliches Treffen gegeben.

Wieviele Kinder gab es in Holland, die untergetaucht waren?

Kats: 650 Kinder.

Wann sind Sie versteckt worden?

Das weiß ich nicht. So weit ich weiß bin ich mit meinen Eltern ins Versteck gekommen, aber ich weiß nicht, ab wann. Ich weiß nur, daß ich 1943 zu den Personen gekommen bin, die dann meine Pflegeeltern geworden sind.

Das heißt, Ihre Eltern haben Sie dorthin gebracht, und Sie haben sie nie kennengelernt?

Kats: Nie. Sie sind gefaßt und ermordet worden. Und ich bin bei diesen Leuten geblieben.

Sind Sie vor der Öffentlichkeit versteckt worden oder haben Ihre Pflegeeltern so getan, als seien Sie ihr Kind?

Kats: So war es. Ich war neun Monate alt. Sie hatten ein Kind verloren. In meinem eigenen Kinderwagen bin ich zu diesen Menschen gebracht worden, und da kam ich in das kleine Bett, das da schon stand. Ich konnte schon in der Öffentlichkeit sein, nur nicht unter meinem eigenen Namen. Ich habe eine andere Persönlichkeit angenommen – wie alle, die im Versteck aufgewachsen sind.

Wann haben Sie erfahren, daß Ihr Name nicht Ihr Name ist?

Kats: Als ich sechs Jahre alt wurde, am Abend vor meinem Geburtstag, da haben sie mir das erzählt.

Können Sie sich noch an den Abend erinnern?

Kats: Daran kann ich mich gut erinnern. Ich saß auf dem Schoß meines Vaters – meines Pflegevaters – und ich kann mich erinnern, daß er mir eine Geschichte von einem Mädchen und einem Papi und einer Mami erzählte, und es war alles sehr traurig. Papi und Mami waren tot, das Kind war irgendwo anders – ich war völlig durcheinander. Ich hatte nur eine Angst: Ich darf hier nicht bleiben, ich muß weg. Dann hat er mich beruhigt, das heißt, mehr sich selbst als mich. Und dann hat er es mir erzählt. Und ich war froh, daß ich bleiben durfte. Am nächsten Tag war dann mein Geburtstag. Mai 1948.

Um bei dem Namen zu bleiben...

Kats: ...ich habe immer den Namen Rita gehabt, Rita van der Weg. Aber die haben mich nicht adoptiert. Nun sollte ich in die Schule gehen, und deswegen haben sie es mir erzählt. In der ganzen Schulzeit war ich Rita. Dann bin ich zur Hochschule gegangen, ab da habe ich meinen eigenen Familiennamen geführt und hieß Rita Kats. Und als ich fast 20 war, da habe ich als ersten Schritt zu mir begonnen, meinen eigenen Namen zu führen: Rozette Kats. Seitdem bin ich ich.

Vielleicht ist es noch interessant, daß sich meine Mutter erst seit 1989 bemüht, sich nicht zu irren. Aber sie sagt meistens Ri-Rosette.

Hat Religion in dieser Phase für Sie eine große Rolle gespielt?

Kats: Mein persönliches Problem ist, daß das so gar keine Rolle gespielt hat. Daß ich mich so angepaßt habe. Ich war, wie die mich erzogen haben. Ohne Religion. Ohne Bewußtsein. Ohne Judentum. Und später, als ich auf der Schule gedacht und gelesen und gehört und gefragt habe, habe ich die Religion nicht auf ihren Platz setzen können. Erst viel später, als ich meinen Mann kennengelernt und von ihm auch sehr viel über den Krieg gehört habe, erst dann habe ich angefangen, diese Geschichte mit mir zusammenzubringen. Das war bis dahin nicht meine Geschichte: der Krieg, Juden, KZs. Wenn ich zurückgucke, dann denke ich oft, ich habe in einem Sauerstoffzelt gelebt. Ich war da, aber ich hatte keinen Kontakt. Seit diesem Abend, als ich sechs wurde, wußte ich, daß etwas mit mir war. Ich war anders. Jetzt habe ich ein Bild dafür: Ich war von meinem Fundament losgeschraubt. Obwohl es so schien, als ob sich nichts änderte – alles war anders. Das habe ich schon immer gefühlt, aber ich konnte nichts damit tun. Ich hatte nicht die Instrumente dafür. Eigentlich habe ich erst nach 1992 was damit tun können.

Zweimal war ich vorher in Auschwitz. Ich habe versucht, da etwas zu fühlen, was mich zu meiner Vergangenheit bringen könnte. Ohne den gewünschten Erfolg. Aber nach 1992 war das anders. Wir haben uns bei dem Kongreß in Altersgruppen getroffen. All diese Kinder in meiner Gruppe hatten andere Geschichten, aber trotzdem, ich erkannte in all den Geschichten meine Geschichte. Das war so – ich kann da gar kein Wort finden. Alles, was ich vorher versucht hatte, hat einen Platz bekommen.

War das bei Ihnen ähnlich?

Walvisch: Ich bin im Mai 1944 geboren. Meine Eltern waren schon lange in der Nähe von Amsterdam untergetaucht bei einem sehr bekannten Bauern. Das war eine große Familie, wo viele untergetaucht waren. Meine Eltern waren mit meiner älteren Schwester da. Dann wurde im November 1943 mein Vater bei einer Razzia verhaftet, meine Mutter ist in die Nähe von Haarlem gegangen. Und da bin ich im Versteck geboren worden.

15 Adressen hat meine Mutter gehabt, als ich ein Baby war. Am Ende ist sie nach Ost-Holland gegangen und mit mir bei armen Bauern in der Nähe der deutschen Grenze untergetaucht. Da sind wir bis nach dem Krieg geblieben. Mein Vater ist nicht zurückgekommen. Der ist direkt nach Auschwitz gebracht und ausradiert worden.

Es gibt Berichte aus Familien von Überlebenden, in denen war das Grauen immer präsent, nur es ist kaum darüber geredet worden. Wie war das bei Ihnen?

Walvisch: Es war ganz schwierig. Meine Mutter hat nach dem Krieg wieder geheiratet, einen nichtjüdischen Freund aus der Zeit vor dem Krieg. Und er hat mir über meinen Vater erzählt. Das war ganz besonders. Weiter wurde nicht so viel geredet. Es hing ein Foto von meinem Vater an der Wand. Das war alles.

Als ich größer war habe ich mehr gefragt. Aber nie meine Mutter, immer nur meinen Stiefvater. Aber nicht viel.

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