Im Wendekreis der Abrißbirne

Amüsement mit Anspruch: Berlins Off-Kunst pendelt zwischen Galerie, Technoclub und Kneipe  ■ Von Roland Brockmann

Nicht wenige Ideen des Schönen nehmen ihren Lauf im Schutz des Kneipendickichts. Das ist in Köln nicht anders als in Hamburg oder Berlin. Gern erinnert man sich etwa an durchzechte Nächte im „Café Central“, dem „Vienna“ oder der „Paris Bar“. Und wenn die Ausfälle der Nacht im grellen Tageslicht auch regelmäßig gewisser Korrekturen bedürfen: Ein Abend an der Bar war und ist der direkteste Weg zur Kommunikation unter Künstlern.

Leider nicht immer ungestört. Wo der eine Kraft und Inspiration für das neue Kunstwerk schöpfen will, plaziert der andere seinen künstlerischen Output, ohne sich im geringsten um die demoralisierende Wirkung seiner Werke zu scheren. Die Kneipe ist eben auch erste Anlaufstelle gescheiterter (Künstler-)Existenzen, die in der Kneipe zuvorderst eine billige Chance sehen, die Öffentlichkeit mit ihrem ansonsten verschmähten Bilderkosmos zu konfrontieren. Nirgends liegt die Schwelle für Kunst im öffentlichen Raum niedriger. Kaum findet sich noch ein Lokal in der Stadt, wo die Wände nicht mit kitschigen Ölschinken behängt sind. Mancher Wirt mag sich dem Irrglauben hingeben, mit solcher Makulatur nicht nur dem eigenen Umsatz, sondern auch dem Kunstbetrieb einen rechtschaffenen Dienst zu erweisen.

Daß es auch anders geht und Kunst in der Kneipe mehr sein kann als dekoratives Anhängsel, zeigt sich gerade in Berlin-Mitte, wo sich in den Nischen leerstehender Läden und Fabrikgebäude eine unabhängige Subkultur entwickelt hat: vom innovativen Technoclub bis zur kleinen Bar mit engagiertem Ausstellungsbetrieb. Das Experimentierfeld im Crossover von Kultur und Unterhaltung ist weit gesteckt; die grundlegende Idee der Clubkultur gegenüber dem klassischen Galerienmarkt besteht vor allem darin, daß Kunst „leben soll“ – am besten nachts. Egal, ob Party mit Easylistening zu Bilder von König Maibach im „Boudoir“, Cheap-Art von Jim Avignon zu Drum'n'Bass in der Galerie „Berlintokyo“ oder unbekannte Kunstvideos im „Sniper“ bei Thai-Bier und Sake – Anspruch und Amüsement müssen kein Widerspruch mehr sein.

„Bei uns spielen Ausbildung oder Werdegang keine Rolle“, sagt Johann Novak, „allein die Idee zählt. Es muß ,klick‘ machen, wenn mir jemand etwas zeigt.“ Seit sechs Jahren verbindet er in der „Aktionsgalerie“ gegenüber vom Hackeschen Hof bildende Kunst mit Performance und dem Nightlife- Gefühl an der Bar. Der Übergang ist fließend. Zwar werden die eigentlichen Ausstellungen im Keller gezeigt, kommen im Tresenraum eher Lichtinstallationen und DJs zum Einsatz, aber bei den Performances werden meist alle Räume genutzt, und der Tresengast kann ohnehin jederzeit in die Kellergewölbe zur Kunst hinabsteigen. In der Regel trifft er dort eher auf Arbeiten, die aus merkwürdigen Gefühllagen heraus entstanden sind: seltsam zusammengenähte Hühnchen, die Iris Schieferstein in Gläsern mit Formalin eingelegt hat, ein virtueller Goldfisch in einer leeren Schüssel oder Reptilien aus Gummi, die an den nackten Mauern entlangwandern.

Die „Aktionsgalerie“ versteht sich als Sammelbecken, das künstlerischen Formen ein Forum bietet, die im Galerienbetrieb kaum Chancen hätten, weil sie zu aufwendig und daher meist unverkäuflich sind. „Wir zeigen hauptsächlich Installationen. Keine Handelsware. Bei uns hat der Künstler die Möglichkeit, nach seinen Vorstellungen etwas zu realisieren.“ Kunst als Ausdruck des momentanen Lebensgefühls, finanziert durch den Umsatz am Tresen. Nach der Ausstellung verschwinden die Sachen einfach wieder. Es gibt kein Depot. Auch die Läden schließen so schnell, wie sie aufmachen, immer auf der Flucht vor der Sanierungswelle. Die Kunstmetzgerei „Fleisch + Wurst“ mußte gerade erst dichtmachen.

Das Prinzip Kunst und Kneipe nutzt die Nischen im großen Renovierungsapparat – doch die sind temporär. Auch Johann Novak von der „Aktionsgalerie“ ist klar, daß die Freiräume in Mitte langsam aber sicher verschwinden. Deshalb will er „die Kräfte bündeln“ und hat jetzt in einem leerstehenden Gebäude in der Oranienburger Straße das Projekt „...und ab die Post! Ein Festival junger experimenteller Berliner Kunst“ realisiert (siehe Kasten). Das ehemalige Postfuhramt ist selbst ein Beispiel für ungenutzte Kapazitäten. Im März soll dort die Berlinische Galerie einziehen. Doch abgesehen von der Ausstellung „Sonambiente“ im letzten Sommer blieb das Haus jahrelang ungenutzt. „Es wird immer Nischen geben“, sagt Veranstalter Novak, „aber man muß das Bewußtsein fördern, sie auch zu öffnen.“ Dabei setzt er auf den Druck, den erst eine größere Ausstellung bietet. „Die einzelnen kleinen Projekte sind zwar in sich stark. Alle sagen: ,Toll, was es hier alles gibt.‘ Aber es fällt niemandem auf, wenn etwas wegfällt.“ Schritt für Schritt werden die Fassaden glattrasiert.

Umgekehrt schreckt gerade die öffentliche Bedeutung einmal etablierter Institutionen jeden Eigentümer, sein Gebäude für eine Übergangszeit herauszurücken. Das „Tacheles“ ist inzwischen so weit ins allgemeine Bewußtsein gerückt, daß eine kulturfremde Verwendung schlicht unmöglich erscheint. Was im Fall „Tacheles“ durchaus positiv stimmen mag, wirkt auf breiter Front eher lähmend. Aus Angst vor dem „revolutionären Impetus: Die Kunst nimmt sich ihren Raum, Fahne raus“, so Tim Edler von „Kunst und Technik“, „läßt der Besitzer sein Haus lieber leerstehen.“

Der neu gegründete Verein wählte deshalb einen weichen Weg, der die zeitliche Begrenztheit vorhandener Nischen in sein Konzept konkret einbezieht. Im Herbst 1996 hat die Gruppe aus jungen Architekten und Künstlern von der Stadt ein Gebäude im Monbijoupark angemietet, das – eine Grünanlage entlang der Spree ist geplant – irgendwann definitiv abgerissen wird. Bis dahin will der Verein hier ein temporäres Kunstkonzept mit Kneipenbetrieb realisieren: weniger Galerie als freie Plattform für freie Geister; Ausstellungen, aber auch Arbeiten zum Cyberspace; und Konzerte oder Aktionen, die auf den Raum selbst eingehen, zum Beispiel indem sie ihn zerstören. Alles dreht sich um den Prozeß der Veränderung, bis zum bitteren Schluß: „Wir gehen hier mit dem Wissen rein, auch wieder rauszugehen. Aber unsere Investitionen wollen wir mitnehmen.“ Die Infrastruktur von Wasser- und Stromanschluß bis zum DJ-Pult soll deshalb aus mobilen Modulen bestehen, die sich problemlos an anderer Stelle wieder anschließen lassen – „irgendwo tun sich immer neue Nischen auf!“ Tim Edler gibt selbst zu, daß ein solches Konzept „neoliberalen Vorstellungen“ ziemlich entgegen kommt: Der Verzicht auf Förderung von seiten der öffentlichen Hand, statt dessen Sponsoring durch Privatunternehmen und vor allem die Antizipation der anrollenden Sanierungswalze bedeutet letztlich nichts anderes, als das Einholen der schwarzen „Unabhängigkeitsflagge“ aus den Tagen des Häuserkampfs. Kommt damit auch der einträchtige Gleichschritt von Kunst und Kapital?

Zumindest Teile des kreativen Potentials scheinen sich aus den Armen der staatlichen Hilfe zu lösen, um gleichzeitig – unabhängig vom klassischen Kunstmarkt – eigene Kulturvorstellungen zu etablieren. In der Galerie „Berlintokyo“ etwa ist man „relativ stolz“, daß es auch ohne Subventionen geht: „Die Kulturförderung unterstützt doch eh nur Projekte, die keinen Arsch interessieren – in den Sand gesetztes Geld“, findet der 1. Vorsitzende vom Kulturforum „Berlintokyo“, Rafael Horzon. Vor knapp einem Jahr gründeten zehn junge Neuberliner den eingetragenen Verein in einem Hinterhof der Rosenthaler Straße. Kunst soll hier zunächst einmal „Spaß machen und lustig sein“. Im Zweiwochenrhythmus präsentiert der Club neben dem Partybetrieb Ausstellungen unbekannter Künstler. Die Bilder sind eher defensiv plaziert. Niemand wird mit der Nase auf Kunst gestoßen. Reine Partygänger, die sich lieber auf der Tanzfläche amüsieren, sollen keinen Schaden an der Bilderwelt nehmen.

Johann Novak von der „Aktionsgalerie“, der im Grunde die Trennung von Kunst und Kneipe doch aufrechterhält, wenn er die Ausstellungen ins Kellergeschoß verbannt, wünscht sich etwas mehr Respekt vor der Kunst: Schließlich sollen auch die Kunstwerke keinen Schaden durch unsensible Trunkenbolde erleiden. Hier tritt der Zusammenhang von Kunst und Kneipe wieder deutlich vors Auge:

Der Zapfhahn finanziert den Ideenfluß des Künstlers – oder zumindest dessen Realisierung im Schatten des etablierten Kunstbetriebs. Und das ist gut so. Der Platz in der Künstlerkneipe ist schließlich gerade deshalb so wertvoll, weil er vom Apparat relativ unberührt bleibt. Bürokraten und Kulturbeamte müssen draußen bleiben, es sei denn, sie kommen als Gäste. Galeristen hingegen sind stets willkommen, um Talente zu entdecken. Denn wie sagte einst der Maler Albert Oehlen: „Gott segne Max (Hetzler). Er hat das Geld und die Galerie.“ Allerdings keine Kneipe und kein Bier.

„...und ab die Post!“, bis 9. 2., täglich ab 16 Uhr, Postfuhramt an der Oranienburger Straße, Berlin