Vom Dämon der Liebe besessen

■ Der russische Symbolist Michail Wrubel wird mit einer Retrospektive in der Düsseldorfer Kunsthalle wiederentdeckt

Lang hat es gedauert, bis man in Deutschland die Kunst der Jahrhundertwende wieder ernst nahm. Nach dem Zweiten Weltkrieg galten die künstlerischen Leistungen des 19. Jahrhunderts als durch die Moderne überwunden und damit für die Gegenwart bedeutungslos. Erst ein 1965 vom deutsch-amerikanischen Kunsthistoriker Hans H. Hofstätter herausgegebener Sammelband und die elf Jahre später unter seiner Ägide in Rotterdam, Paris, Brüssel und Baden-Baden gezeigte Ausstellung „Symbolismus in Europa“ machten diese Kunst wieder salonfähig. Fortan allerdings konzentrierten sich die Kuratoren immer wieder auf die dekorativen Gemälde eines Gustav Klimt, Egon Schiele oder Oskar Kokoschka: Ihre Werke wurden in unzähligen Ausstellungen wieder und wieder neu arrangiert, bis sie endlich jegliche Brisanz verloren hatten, dafür aber am Kunstmarkt um so besser verkäuflich waren.

Michail Wrubel ließ sich so einfach nicht vermarkten, weil die meisten seiner Werke die Länder der ehemaligen Sowjetunion nie verlassen haben. Dabei hätte die Biographie durchaus die klassische romantisierende Legendenbildung à la van Gogh zugelassen. 1856 in Omsk geboren, entschied sich der Sohn eines Militärjuristen zunächst ebenfalls für ein Jurastudium. 1880 dann schrieb sich der 24jährige an der Kunstakademie von Sankt Petersburg ein, um vier Jahre später mit der ein halbes Jahrzehnt währenden Restaurierung mittelalterlicher Fresken in der Sankt-Kyrill-Kirche in Kiew zu beginnen. Durch diesen Auftrag lernte Wrubel nicht nur sein Handwerk, er kam auch mit bedeutenden Mäzenen in Kontakt, die fortan Bilder bei ihm bestellten.

Michail Wrubel wird der Maler der russischen Mythen und Sagen. Wie seine Symbolistenkollegen Klimt, Redon oder Böcklin im Westen Europas will er die menschliche Seele in höhere Gefilde führen, als sie der Alltag zuläßt. Formal jedoch hat Wrubel die Künstler in den damaligen Zentren Berlin, Wien, Paris und München, über die die von ihm in Moskau mitherausgegebene Zeitschrift Mir iskusstwa („Welt der Kunst“) regelmäßig informiert, längst überholt. Seine Werke nehmen Cézannes Zersplitterung der Wirklichkeit und sogar den Kubismus voraus. Seine märchenhaften Gestalten, die Traumprinzessinnen und Helden, spiegeln zugleich die für die Fin-de-siècle-Bewegung so typische Ahnung und Hoffnung einer tiefen Erneuerung wie eine gewaltige Lebensangst wider. Der Dämon wird Wrubels dominierendes Motiv. Nach einem Text von Michail Lermontow malt er immer wieder das jenseitige Wesen, das den Liebhaber der schönen Tamara umbringen läßt, das Mädchen im Kloster verführt und nach ihrem Tod schließlich allein und ohne jede Hoffnung zurückbleibt. Auf Hunderten von Skizzen und mehreren Quadratmeter großen Ölgemälden porträtiert Wrubel diesen Dämon so, wie Lermontow ihn beschrieben hat: als Wesen mit verweiblichten Zügen, verrenktem und zerschmettertem Körper, mit gebrochenen Flügeln aus Pfauenfedern und einem Blick, aus dem unsägliche Verzweiflung spricht.

„Rette mich vor meinem Dämon“, wird der Maler an seine Frau schreiben, als er 1906 totkrank und ohne Augenlicht in einer Sankt Petersburger Klinik lebt. „In diesen sechs Monaten habe ich etwa tausend Blätter vollgezeichnet und alle vernichtet.“ Schon vier Jahre zuvor hatten sich erste Zeichen einer Geisteskrankheit angekündigt, die schließlich zum Wahnsinn führen sollte. Eine nicht vollendete Skizze des visionären Propheten Hesekiel wird sein letztes Werk, bevor er im Februar 1906 erblindet.

Einen großen Teil der nicht zerstörten Werke zeigt nun die Düsseldorfer Kunsthalle in der ersten West-Retrospektive Michail Wrubels. Nur eine einzige Leihgabe kommt dabei aus Deutschland, aus der Kunsthalle Kiel. Auch in seiner Heimat waren die Werke des 1910 gestorbenen Malers allerdings knapp ein halbes Jahrhundert nicht zu sehen. Wrubels monumentale und durchgeistigte Dämonenbilder, seine Faust-Illustrationen und die dazu nur scheinbar nicht passen wollenden, weil bezaubernd zarten Pflanzen- und Porträtzeichnungen verweigerten sich nicht allein dem westlichen Kunstmarkt. Sie paßten auch nicht ins heroische Konzept vom sozialistischen Realismus. Nach der von russischen und ukrainischen Kunsthistorikern unterstützten Düsseldorfer Pionierarbeit, die sich im grundlegenden Katalogbuch niederschlägt, sind jetzt auch Ausstellungen in Moskau, Sankt Petersburg und Kiew geplant. Stefan Koldehoff

„Michail Wrubel – der russische Symbolist“. Bis 13. April, Kunsthalle Düsseldorf. Katalog: DuMont Verlag, Köln, 312 S., 49 DM