Raus aus den Studierstuben!

Welche Rolle spielt die Orientalistik für das Verständnis des Islam in Deutschland? Aufklärung und Kulturvergleich statt selbstgefälliger Forschung fordert  ■ Gernot Rotter

Ein Orientalist, genauer gesagt: ein Islamwissenschaftler besucht in einer arabischen Universität im Nahen Osten den Dekan der Fakultät für islamisches Recht (shari'a). Weitere muslimische Rechtsgelehrte finden sich ein. Kaffee wird serviert. Es wird viel gelacht, doch schon bald mischen sich kritische Töne in die lockere Plauderei. Die Objektivität der westlichen Orientalistik in Vergangenheit und Gegenwart wird in Zweifel gezogen, ihre angebliche antiislamische Tendenz kritisiert, die ökonomische und kulturelle Aggressivität des Westens verurteilt und die historische Rolle des europäischen – nicht des orientalischen – Christentums im Rahmen des westlichen Expansionsdranges seit den Kreuzfahrern an den Pranger gestellt. Unversehens findet sich der Orientalist aufgefordert, seinen Beruf und seine Kultur verteidigen zu müssen. Um die für ihn unbehagliche Situation zu entschärfen, gibt er zu bedenken: „Sehen Sie nicht, daß Sie den Falschen angreifen? Im Westen sind viele von uns Orientalisten gegenwärtig diejenigen, die nach Kräften versuchen, Vorurteile gegen die islamische Welt auszuräumen oder zumindest zu relativieren. Hier bei Ihnen muß ich den Westen und das Christentum verteidigen. Dabei bin ich Atheist!“ „Aber ein christlicher!“ entfährt es spontan einem der Rechtsgelehrten. Als hätten sie es ohnehin geahnt, daß die Orientalisten gottlose Gesellen sind, machen die Rechtsgelehrten dennoch gute Miene zum bösen Spiel, finden zu einem freundlichen Plauderton zurück und verabschieden den Besucher so höflich, wie sie ihn begrüßt hatten.

Orientalisten sind jene Spezies von Geisteswissenschaftlern, die sich, wie der Name schon sagt, mit dem „Orient“ beschäftigen, wobei dieser Orient China und Indien ebenso wie den ethnisch und sprachlich sehr vielfältigen Raum der islamischen Welt umfaßt. Diejenigen Orientalisten, die sich der Erforschung des letzteren widmen, nennen sich meist Islamwissenschaftler. Von ihnen soll hier die Rede sein oder, besser gesagt: von dem Dilemma, in dem sie sich heute zuweilen befinden und das der geschilderte Vorfall so anschaulich illustriert.

Wie die Sinologie, die Indologie etc. zählte auch die Islamwissenschaft bis vor wenigen Jahrzehnten zu den meist abfällig „Orchideenfächer“ genannten Studiengebieten. Die Zahl der StudentInnen an den jeweiligen Seminaren ließ sich an ein oder zwei Händen abzählen, und die Professoren – fast ausschließlich Männer – konnten in ihrem Elfenbeinturm, unbehelligt von äußeren Einflüssen, ihren wissenschaftlichen Hobbys nachgehen, so zum Beispiel wortgeschichtlichen Problemen der früharabischen Dichtung, der Herausgabe von Schriften bedeutender Philosophen und Theologen des Mittelalters oder der kritischen Analyse historischer Texte. Es war gar keine Seltenheit, daß so mancher – zu Recht – hochgeschätzter Islamwissenschaftler das gegenwärtige Leben in einem muslimischen Land nie aus eigener Anschauung kennengelernt hatte. Er befaßte sich mit dem Nahen Osten wie die klassischen Philologen mit einer verflossenen Kultur. Daß sich aber im Gegensatz zum alten Griechenland oder zum Römischen Reich die nahöstliche, islamisch geprägte Kultur — besser: die Kulturen – bis in die Moderne weiterentwickelte und immer noch sehr lebendig und schöpferisch ist, wurde vielfach aus dem Blickwinkel verloren. Damit soll nicht in Abrede gestellt werden, daß frühere Orientalistengenerationen heute noch wichtige Grundlagenforschung geleistet haben. Mangels Kolonien im islamischen Raum blieb in der deutschen Orientalistik im Gegensatz vor allem zu England und Frankreich der moderne Orient aber außen vor.

Nur zögerlich trat nach dem Zweiten Weltkrieg eine Änderung ein. Die weltfremde Stubengelehrsamkeit behielt das Sagen zum Beispiel im Dachverband der Orientalisten, der „Deutschen Morgenländischen Gesellschaft“. Das „Morgenland“, das diese Gesellschaft immer noch im Namen führt, ist konservierte deutsche Romantik.

Die medienpolitischen Folgen sind bekannt: Da der Sachverstand von der Moderne abgewandt und in der Stube blieb und sich nur in gelehrten, der Öffentlichkeit weitgehend unverständlichen Büchern und Aufsätzen ausbreitete, übernahmen selbsternannte Experten ohne die unerläßlichen Sach- und Sprachkenntnisse die Aufgabe, die Öffentlichkeit über den islamischen Kulturraum zu unterrichten, wobei in der Regel die ohnehin vorhandenen Vorurteile nur aufgegriffen und verstärkt ans Publikum zurückgegeben wurden.

Erst in jüngerer Zeit fordern neue StudentInnengenerationen vehement die Einbeziehung des modernen Orients in den Unterricht, und die Medien und Verlage erinnern sich zunehmend an den in den Universitäten brachliegenden Sachverstand. Die sich ständig komplizierter gestaltenden Umwälzungen im Nahen Osten, die immer stärker auch in Europa spürbar werden, und die wachsende Zahl muslimischer MitbürgerInnen in Europa wecken den Wunsch nach kompetenter Erläuterung der gesellschaftlichen, kulturellen und religiösen Hintergründe. Ebendaraum findet sich der Orientalist in einem unausweichlichen Dilemma.

Wieder zurück in Deutschland, folgt der Orientalist zum x-ten Male der Einladung, einen öffentlichen Vortrag zu halten zum Thema: „Ist der Islam eine Gefahr für Europa?“ Mit einem wissenschaftlich gut untermauerten Referat versucht er vor einem interessierten Publikum die gestellte Frage zu verneinen. Am Ende erntet er auch höflichen Beifall, doch die Beiträge der Diskussion verraten ihm wie schon so oft, daß er in den Köpfen nichts, aber auch rein gar nichts bewegt hat.

Als er in der Woche darauf in einer christlichen Gemeinde erneut zu einem Vortrag zum selben Thema antritt und auf das erwartungsvoll gespannte Publikum blickt, entschließt er sich spontan, sein Manuskript zur Seite zu legen und zunächst die Frage zu beantworten: „Was haben Christentum und Islam (und Judentum) gemeinsam?“ Aus dem Stegreif listet er einiges an Gemeinsamkeiten, die das Trennende bei weitem überwiegen, auf: der alleinige, patriarchalische Gott; der Teufel, der sich gegen ihn stellt und die Menschen zur Sünde verführt; Himmel und Hölle, in denen sich, je nach Lebenswandel, die Menschen nach dem Tod wiederfinden; die Engel mit Gabriel an der Spitze, Adam und Eva im Paradies; Abraham als der Erzvater aller Gläubigen; die Zweitrangigkeit der Frau; etc. Zu den Gemeinsamkeiten gehört auch die Praxis, sich aus den Steinbrüchen der jeweiligen normativen heiligen Texte nicht nur Begründungen für Toleranz und Nächstenliebe, Spiritualität und Mystik herauszubrechen, sondern – in bestimmten gesellschaftlichen und politischen Konstellationen – auch für Intoleranz und militanten Fanatismus. Damit will der Orientalist zum eigentlichen Thema des Abends überleiten. Doch dazu kommt es nicht mehr. Die einsetzende Diskussion zeigt, daß die meisten Zuhörer sich mangels Grundkenntnissen über den Islam noch nie der Nähe der beiden Religionen bewußt geworden waren.

Der Orientalist streift durch eine große deutsche Buchhandlung und blättert in den populärwissenschaftlichen Neuerscheinungen über die islamische Welt. Zum x-ten Male erregt er sich über den Umstand, daß der am häufigsten, oft schon im Buchtitel erscheinende Name das arabische Wort „Allah“ ist. Er versucht sich vorzustellen, wie die Europäer reagieren würden, wenn in einem arabischen Buch ausgeführt würde, daß die Franzosen einen Gott namens „Dieu“, die Engländer dagegen einen namens „God“ verehrten. Eine der Verkäuferinnen deutet das verzweifelte Kopfschütteln des Orientalisten als Bitte um Hilfe, die sie ihm auch sogleich freundlich anbietet. Der Orientalist erläutert den Grund seines Kopfschüttelns, erklärt, daß „Allah“ nichts anderes als unser Wort „Gott“ ist. Er fügt als Argument noch an, daß auch die arabischen Christen in ihrer Sprache zu Allah beten, wenn sie Gott meinen, und dies schon taten, als Mohammed noch nicht geboren war. Da spielt die Verkäuferin siegessicher ihren Trumpf aus: „Ich kenne aber eine Deutsche, die zum Islam übergetreten ist und kein Arabisch kann, aber immer von Allah spricht.“

Gar nicht selten wird dem Islamwissenschaftler in Deutschland unterstellt, daß er selbst Muslim sei. Skeptischen Muslimen genügt der Umstand, daß er es nicht ist, als Beweis dafür, daß er gar nicht korrekt über den Islam urteilen könne. Spätestens wenn er den Telefonhörer abnimmt und der Anrufer allen Ernstes fragt: „Führen Sie auch Beschneidungen durch?“, wird er auf ein in der außeruniversitären Öffentlichkeit in Deutschland wie im Orient weitverbreitetes Mißverständnis aufmerksam: Der Job von IslamwissenschaftlerInnen bestünde darin, islamische Theologie zu lehren und entsprechende ReligionslehrerInnen auszubilden, wie es analog die beiden christlichen Kirchen in ihren Fakultäten an den Universitäten tun. Nun ist dies ganz und gar nicht die Aufgabe von IslamwissenschaftlerInnen, wie es auch nicht die Aufgabe des Fachs Vergleichende Religionswissenschaft ist, irgendeinen Glauben zu vermitteln. Dies wäre im Falle des Islam die Aufgabe von Fakultäten für islamische Theologie. Und angesichts der über zwei Millionen Mitbürger islamischen Glaubens in Deutschland stellt sich die Frage, warum an unseren Universitäten nicht langsam der Gedanke reift, neben der protestantischen und katholischen Theologie auch der islamischen ihren Platz einzuräumen. Den Dialog zwischen den Religionen würde dies gewiß fördern. (Kann man sich dazu nicht durchringen, sei im Umkehrschluß die Frage erlaubt, was die christlichen Fakultäten eigentlich noch an den Hochschulen zu suchen haben.)

Der eingangs erwähnte Orientalist hatte gegen die Kritik an seiner Zunft den islamischen Rechtsgelehrten die Gegenfrage gestellt, warum es an den arabischen Universitäten als Pendant zur Orientalistik im Westen kein Studienfach „Okzidentalistik“ gebe. Der Vorschlag wurde begeistert aufgegriffen. „Okzidentalisten“ könnten dann im Westen kompetent als islamische Missionare wirken, wie es die westlichen Orientalisten ja – nach der Vorstellung so manches muslimischen Theologen – auch im Orient täten. Das Mißverständnis also auch dort. (Die Ausbildung von Theologen der christlichen orientalischen Kirchen erfolgt im übrigen dort so wenig wie hier die der muslimischen an staatlichen Universitäten, sondern in kirchlichen Institutionen. Christliche Theologie an staatlichen arabischen Universitäten etablieren zu wollen wäre gewiß noch chancenloser als der Versuch für die islamische Theologie bei uns.)

„Die Orientalisten sind die Handlanger des westlichen Imperialismus. Ihr Ziel ist es, den Islam zu studieren, um ihn und seine Geschichte dann herabzusetzen und zu verfälschen. Ihr Interesse und ihre Sympathie sind vorgetäuscht und so wenig glaubwürdig, wie es die heuchlerischen Forderungen des Westens nach Menschenrechten und Demokratie sind.“ Solche und ähnliche Sätze findet der Orientalist in einer ständig wachsenden Fülle arabischer Bücher, deren Autoren meist aus fundamentalistischen Kreisen kommen. Trotz reger freundschaftlicher Kontakte, die viele westliche OrientalistInnen zu arabischen KollegInnen mit ähnlichen Forschungsgebieten unterhalten, wird von vielen arabischen Gelehrten weiterhin die westliche Orientalistik in die verständliche Kritik gegen den westlichen Kulturimperialismus mit einbezogen.

Besonders ungerecht behandelt fühlten sich viele OrientalistInnen durch ein englisches Buch des renommierten palästinensischen Literaturkritikers Edward Said, das 1978 erschien und den Titel „Orientalism“ trägt. Auch wenn Said zuweilen stark verallgemeinert und manchen OrientalistInnen unlautere Absichten unterstellt, wo vielleicht nur Ungeschicklichkeit oder Unwissen vorliegt, so bleibt doch der Grundgedanke seiner Kritik im Raum stehen: OrientalistInnen – nicht nur in der Vergangenheit – betrachten den Orient im allgemeinen und den Islam im besonderen aus einem Blickwinkel eurozentristischer Arroganz, ja schlimmer, sie haben den „Orient“ überhaupt nur erfunden, um ihn von der zivilisierten Weltgemeinschaft zu trennen und zu beherrschen. Daß dieser Vorwurf eine wunde Stelle getroffen hat, zeigt die rege Debatte, die er hervorgerufen hat. Und dies vielleicht auch deswegen, weil man Edward Said keine „islamische Verbohrtheit“ vorwerfen kann, denn er ist Christ und politisch eher links einzuordnen.

Je nach Persönlichkeitsstruktur und nach den Gründen, die ihn oder sie einst bewogen, die Islamwissenschaft zum Beruf zu machen, reagieren alle OrientalistInnen angesichts des verbreiteten Unverständnisses im Westen und der Angriffe im Nahen Osten anders. Manche ziehen sich frustriert in ihre Studierstuben zurück, andere verklären den muslimischen Orient in romantisierender, exotischer Weise, indem sie die aktuellen Menschenrechtsverletzungen, die im Namen des Islam begangen werden, ausblenden. Es gibt aber auch IslamwissenschaftlerInnen, die sich – Gott sei Dank und al-hamdu li'llÛh werden es immer mehr – dem Dilemma stellen und öffentliche Aufklärungsarbeit zu leisten versuchen, denn der clash of civilizations, den im Westen Samuel Huntington und die wachsende Schar seiner Anhänger und in der islamischen Welt militante Fanatiker herbeireden, könnte Wirklichkeit werden. Dieser Entwicklung entgegenwirken müssen aufgeklärte Christen einschließlich der „christlichen Atheisten“ im Westen und aufgeklärte Muslime einschließlich „muslimischer Atheisten“ im Orient. Die militanten islamistischen Fanatiker, die heute das westliche Bild vom Orient und vom Islam bestimmen, sind für diesen so sehr oder so wenig typisch, wie es die Tupac Amaru für Peru, die RAF für Deutschland, Opus Dei für die katholische Kirche oder mordende, die Bibel hochhaltende Abtreibungsgegner für die USA sind. Hier muß die Aufklärung der IslamwissenschaftlerInnen einsetzen, auch wenn es zuweilen schwierig ist, an den beiden Stühlen, zwischen denen sie sitzen, Halt zu finden.