Ein cooler Knabe in Schanghai

Die Ferien sind zu Ende, und es ist nichts geschehen: In „Jungfernfahrt“, dem Erstling des in Schanghai geborenen britischen Autors Denton Welch, treibt es einen Internatsflüchtling ins geheimnisvolle, postkoloniale China  ■ Von Jürgen Berger

Präludium in England. Der junge Denton beschließt in einem anarchischen Moment, die Rückkehr ins Internat zu verweigern. Die Ferien sind zu Ende, er macht ein paar Tage blau, sieht sich Kirchen an und fährt wieder zu Tante und Onkel nach London. Die behandeln die erste Affäre des Neffen very british, also äußerlich völlig unbeeindruckt.

Mit Verspätung muß er dann doch zurück ins Internat, wo er für den Rest des Schuljahres wie ein Gast wirkt. Er wird nicht hier bleiben, zusammen mit dem älteren Bruder geht es nach China, wo der Vater Anfang des Jahrhunderts einem nicht näher bestimmten Beruf nachgeht. Denton Welch hat, typisch für ein Debüt, die Geschichte vom jungen Denton stark autobiographisch durchwirkt. Welch selbst wurde 1915 in Schanghai geboren, sein Vater war dort als Kaufmann tätig.

In Schanghai endlich angekommen, kann der Denton des Romans seine Entdeckerlust kaum zügeln. Er ist allerdings, wie schon sein Bruder im Geiste in Welchs zweitem Roman „Freuden der Jugend“, kein jugendlicher Heißsporn, sondern sieht seine Umgebung mit coolem Blick. Irgendwann macht er eine Rundreise mit einem Experten für chinesisches Porzellan, in einigen Episoden wird das zeitgeschichtliche Kolorit des in Teilen englisch kolonialisierten China Anfang des Jahrhunderts schlaglichtartig erhellt.

Während der Rückfahrt wird die kleine Reisegruppe von heruntergekommenen chinesischen Soldaten aus dem Zug geworfen, die latente Bedrohung durch Einheimische und die folgende Nacht im verlausten Hotel registriert der junge Denton ohne koloniale Attitüde.

In Schanghai selbst lernt er die Fieldings kennen, zu deren älterer Tochter Vesta er sich hingezogen fühlt. Sie ist zwar verheiratet, aber ihr Ehemann entpuppt sich als entsetzlicher Langweiler. Vesta ist eine Geistesverwandte, man stöbert in Antiquitätengeschäften und kauft eine verstaubte Ausgabe von Aikins „British Poets“. Aus den Begegnungen könnte eine erste zart-verschämte Liebe werden, aber alles ist noch im Stadium des Spiels. Dentons Sexualequilibrium könnte in Richtung Frauen ausschlagen – Vesta allerdings macht kein Angebot, also wird wahrscheinlich jene erotische Schwingung stärker werden, die Denton verspürt, sobald ihm kräftige Männer begegnen.

In den Momenten, in denen er seine Fühler ausstreckt, bleibt dennoch alles eine spielerische Episode. Der immer korrekt gekleidete Collegeboy streunt durch ein düsteres Viertel Schanghais und wird magisch von einem erleuchteten Fenster in einem schuppenähnlichen Haus angezogen. Darin begegnet er zwei muskulösen Männern mit Boxhandschuhen an einem Ring. Er will sich davonstehlen, läuft aber einem der beiden in die Arme und wird in einen Kampf verwickelt. In Dentons Blut pulsiert ein Cocktail aus Aggressions- und Sexualhormonen, er erhält eine erste Boxlektion inklusive eines dezenten Lidschattens.

Anders als bei seiner zweiten Männerbekanntschaft, einer sich mehrmals wiederholenden Begegnung mit einem englischen Soldaten, bleibt es beim einmaligen Ereignis. Was bei anderen Erzählern ein ungutes Gefühl hinterlassen könnte, geht in diesem Falle auf, da sich die Atmosphäre verdichtet und in scheinbaren Nebensächlichkeiten Fährten ausgelegt werden, so daß sich die Geschichte in der Phantasie weitererzählt.

Dentons Blick ist mitleid- und respektlos, mit einem Hang zum Morbiden, wovon er sich zugleich wieder abzustoßen scheint und entflieht. Der kleinste Windstoß aus der Erwachsenenwelt kann Denton schwer erschüttern. Ein androgynes Wesen im Schatten junger Knabenblüte, mit einem kühl-distanzierten Verhältnis zum Vater und sehnsüchtigen Träumereien in Richtung der verstorbenen Mutter. Profund und kenntnisreich spricht er über chinesisches Porzellan – entpuppt sich aber auch als geschickter Schnäppchenjäger.

Denton Welch: „Jungfernfahrt“. Göttingen, 420 Seiten, 38 DM, Steidl Verlag