Die Erben der Moderne

Jung und frisch: Eine Ausstellung von zeitgenössischer tschechischer Architektur in der Akademie der Künste beweist, daß Tradition und Eigenständigkeit kein Widerspruch sein muß  ■ Von Ulrich Clewing

Der Architekt des französischen Gymnasiums in Prag kannte die „Qualen und Ängste“ der Schüler. Er wußte von ihrer tiefen Abneigung gegen „die gebauten Unerbittlichkeiten“ gängiger Lehranstalten, in denen es nach „Kreide, geölten Holzböden, Schmierseife und Schulspeisung“ roch. Also baute er eine Schule, die anders sein sollte – mit hellen Klassenzimmern, weitläufigen Pausenhöfen, „ein kleines Paradies, dessen freudvolle Raumqualitäten“, so erinnert sich Hans Busso von Busse, einst Schüler in Prag und längst selbst renommierter Architekturprofessor an der Universität Dortmund, „nicht ohne Einfluß auf Gemüt und Verhalten der Schüler blieben“.

Das französische Gymnasium im Prager Stadtteil Dejvice, 1931 bis 1934 von Jan Gillar errichtet, ist ein Glanzstück der klassisch-modernen Architektur. Und doch ist es nur ein Beispiel von vielen, die zeigen, wie reich der Fundus ist, auf den Architekten in Tschechien heute zurückgreifen können.

Gut 30 Entwürfe von 16 Architekturbüros aus Prag, Brno, České Budějovice und Liberec stellt die Abteilung Architektur der Akademie der Künste in ihrer, was den Umfang angeht, nicht gerade üppigen Ausstellung „Baustelle Tschechische Republik – Aktuelle Tendenzen Tschechischer Architektur“ vor. Parallelen zu der Situation in Berlin drängen sich auf. Die Ausgangspositionen ähneln sich: Seit der „samtenen Revolution“ vom November 1989 haben in Tschechien eine Vielzahl von Architekten und Architektinnen eigene Büros gegründet, die ihre Auftraggeber nun überwiegend aus dem Kreis von Investoren aus dem In- und Ausland rekrutieren.

Die meisten der in der Akademie der Künste präsentierten Gebäude sind daher Büro- und Geschäftshäuser, doch auch ein Flughafen ist darunter (der in Prag- Ruzyne, ein Projekt der Ateliergemeinschaft von Michal Brix und Petr Franta), eine Kirche (in Bad Luhacovice, ebenfalls von Brix/ Franta) sowie drei Bars (Atelier RAW, Brno) und der sehenswerte Entwurf für die geplante Nationale Wissenschaftliche Bibliothek in Liberec (Architekt Radim Kousal, SIAM, Liberec).

Dabei wird eins deutlich: Die Architekten in Tschechien haben offenbar wenig Lust, die im Westen abgewirtschaftete Postmoderne nachzuholen. Sie orientieren sich – nicht zu ihrem Schaden – an älteren Vorbildern. Seit einigen Jahren ist das Neue Bauen der zwanziger und frühen dreißiger Jahre wieder stark im Kommen. Das bedeutet: Auf ästhetische Spielereien wird weitgehend verzichtet, die Fassaden sind klar gegliedert und wohlproportioniert, die Innenräume hell und gehen fließend ineinander über.

Auch die Wahl der Baumaterialien macht einen ausgesprochen durchdachten Eindruck, ist gezielt auf Wirkung ausgerichtet und im selben Moment angenehm zurückhaltend. Das Prager Büro A.D.N.S. beispielsweise, dessen Mitbegründer Martin Nemec (*1957) und Jan Stempel (*1959) auch den tschechischen Pavillon auf der Weltausstellung 1992 in Sevilla entwarfen, beschränkte sich bei der 1994 fertiggestellten Tschechischen Versicherungsanstalt in Kolin auf ein paar wenige Gestaltungselemente: Die auf der einen Seite von einer Glaswand abgeschlossene Schalterhalle ist mit hellem, leicht rotstichigem Birnenholz und grünlich schimmerndem Marmor verkleidet. Der Bodenbelag besteht aus blauem Terrazzo, einer Mörtelmischung, in der kleine eingelassene Steinchen für die Färbung sorgen.

Ein anderes bemerkenswertes Bauwerk, das in der Ausstellung zu sehen ist, ist das Fabrik- und Bürogebäude für die Südmährischen Gaswerke in Brno. Daß die Gaswerke in Brno innovative Architektur in Auftrag geben, hat Tradition. Als die Gasgesellschaft 1928 vor der Aufgabe stand, sich auf der Landesausstellung für zeitgenössische Kultur angemessen darzustellen, wandte man sich an Bohuslaw Fuchs, einen der Altmeister der tschechischen Moderne. Fuchs errichtete einen eleganten, transparenten Pavillon, der, obwohl als temporärer Bau geplant, Jahrzehnte lang stehenbleiben sollte.

Die neue Gasfabrik ist in ihrer architektonischen Qualität ein würdiger Nachfolger dieses baukünstlerischen Schmuckstücks. Von der in Brno ansässigen Architektengemeinschaft A Plus in nur zwölf Monaten gebaut, ist sie mit ihrem futuristisch anmutenden, silbernglänzenden Äußeren und den vier filigranen Masten der Dachkonstruktion ein ganz eigenständiger, markanter Industriebau.

Doch nicht nur Großprojekte werden hier gezeigt. Die Prager Architektin Alena Sramkova ist mit einem kleinen zweistöckigen Holzhaus vertreten, einem Turmbau mit quadratischem Grundriß, der als Erweiterung eines alten, in der Nähe von Kosik gelegenen gemauerten Bauernhofs entstand. Der Bauherr, ein Mathematiker und Philosoph, hatte sich aus Kostengründen für die Holzbauweise entschieden. Das Resultat ist ein schönes, schlichtes Wohnhaus, das Sparsamkeit und Funktionalität vorbildhaft in sich vereint.

Insgesamt bietet die Ausstellung einen Einblick in eine Architekturszene, von der man noch einiges erwarten darf. Nur eines hätte man sich noch gewünscht: etwas mehr Ausführlichkeit in der Präsentation. Was den Vergleich zwischen Prag und Berlin angeht, schreibt der österreichische Architekt Gustav Peichl im Vorwort des Ausstellungskatalogs: „Es ist hochlöblich, daß es in Prag nicht so wie in Berlin den Fraktionskampf zwischen den Glas- und den Mauerarchitekten gibt.“

Das stimmt so nicht ganz: Auch in Prag lieferte – ähnlich wie in Berlin – ein provokant zeitgenössischer Bau wie das prominent in der Prager Altstadt an der Moldau gelegene, alsbald Ginger und Fred getaufte Bürohaus von Frank O. Gehry und Vlado Milunić lange Stoff für heftige Kontroversen. Mit dem einen Unterschied: Der aufsehenerregende Entwurf wurde schließlich gebaut.

Hanseatenweg 10, täglich 10–19 Uhr, montags 13–19 Uhr