Wand und Boden
: Ein Knäuel nasser Regenwürmer

■ Kunst in Berlin jetzt: Turcot, Richter, Palmer/Patricia London Ante Paris, Sieverding, Mattner

Ein achtteiliges Ausstellungskonzept übers ganze Jahr 1997 hinweg, begleitet von einer Veranstaltungsreihe, scheint nötig, allein um die mögliche Berechtigung einer narrativen Gegenwartskunst offenzulegen. Susan Turcot macht jetzt den Anfang der „Storytellers“ im neuen Domizil von Arndt & Partner, der ehemaligen Trafostation in den Hackeschen Höfen.

Ihre Holzkopfpuppen bekamen seit ihrem letzten Auftritt in der Galerie einen hölzernen Unterleib und haben sich damit zur frei stehenden Skulptur entwickelt. Jetzt sehen sie wie eine Gartenschaufel aus. Das machen ihre platten Entenfüße. Vor allem wenn sie mit gelbem Plastikstoff überzogen sind, denkt man leicht an dieses nützliche Werkzeug. Die wenigen Figuren mit ihren doppelt geschienten, fragilen Gliedmaßen sind so zueinander gruppiert, daß sie in der Tat einen Schwatz zu halten scheinen. Wahrscheinlich unterhalten sie sich darüber, daß das neue Jahresprogramm sowie die neue weiße Box stark nach einem Rückzug aus der Galeriearbeit aussehen.

Bis 15.3., Di.–Sa. 14–19 Uhr, Hackesche Höfe, Hof 3

Zu Daniel Richters Ausstellung „17 Jahre Nasenbluten“ hat Contemporary Fine Arts einen schönen, aufwendig gestalteten Katalog veröffentlicht. Es ist ein aufschlußreicher Katalog. Die Reproduktionen von Richters abstrakten Tafelbildern sind am oberen Rand eingeklebt und lassen sich hochheben. Darunter finden sich Fotos, Comics und Zeichnungen. Hier gibt es also gleich ein Versteckspiel um die narrative, figürliche Kunst. Es ist auch ein Aufdeckspiel, zugegeben.

Über Daniel Richter, der in Hamburg lebt, drei Meter zwanzig lang ist und fünfunddreißig Jahre jung, wird gesagt, daß er was mit Rap und HipHop am Hut hat. Man ist geneigt, diese Information auch auf seine Malerei zu beziehen. Wenn die Fotos und die Short stories der Comics die Melodie sind, dann wären seine Abstraktionen deren Remix, als Scratching, Dub, Bassline, sie wären ihr Sampling, auch wenn ein Gemälde selbstverständlich keine digitale Angelegenheit ist.

Bei Richter ist es großformatig, bunt, schwer bepackt mit Farbe an der einen Stelle und nur dünn lasiert an der anderen. Es ist eine überbordende Angelegenheit, barock, und in diesem Sinne manieristisch, voll von Zitaten stark gefilterter malerischer Gesten. Ein Stück Polke da und ein Farbgeräusch von Asger Jorn dort. Trotzdem drängen sich diese Spuren in Richters Abstraktionen kaum auf. Das macht die unbestreitbare Stärke seiner Bilder aus.

Bis 8.3., Di.–Sa. 12–18 Uhr, Sophienstraße 21

Bei Shift e.V. geht es dagegen ruhig und gemessen zu. Auch wenn man so seine Überraschung erlebt. Gerd Palmers 45 Bildquadrate „Viren und Zellautomaten“ sind nämlich aus „augapfeleuphorisierenden Druckerzeugnissen“ der Werbe- und der Pornoindustrie zusammengesetzt. Jede Bildfläche ist in ein Gitter aus 225 kleineren Quadraten (Zellen) zerlegt, die aus kaleidoskopartig zusammenmontierten Fotos und Zeichnungen bestehen. Obwohl zu viele Zellautomaten gehängt wurden, was ihre dekorativen Effekte allzu deutlich macht, so erstaunt doch die Akribie der Montage. Manchmal erinnern die Wirbel erigierter Schwänze an ein Knäuel nasser Regenwürmer.

Patricia London Ante Paris geht die Sache mit der Euphorik eher im Stil wissenschaftlicher Abbildungskonventionen an. Gepreßte Mohnpflanzen sind wie im Botaniklehrbuch nebeneinander aufgereiht, nebst dem erläuternden Text. Vier andere Bild-Text- Tafeln, die von Hypnotika, Analeptika, Euphorika und Stimulantia handeln, sind mit kleinen Pillentütchen, einigen Gramm Haschisch oder Glasampullen versehen. Wenn man nur wüßte, ob es sich lohnt, sie abzuzwacken: Kunst, die in einem sehr direkten Sinne verführt. Viererreihungen sind übrigens ein stetes Mittel der Münchner Künstlerin, die bei Daniel Spoerri studierte. Sie sind nach ihrer eigenen Aussage, eine „langweilige Struktur“. Zumindest eine sehr ordentliche Struktur. Auch „Pianissimo dolce“, eine Tonbandkassette, reiht alle Wünsche von P.L.A.P. ordentlich hintereinander: Liebe, Liebe, eine Professur in Kunstgeschichte und mehr Liebhaber. In „Kybernetik“ dreht sich die Welt um „Sex etc. (Techniken zur Opiatgewinnung, ß-Endorphin-Modell, Baustein 61-91 der Aminosäurenkette)“. Das kommt der Schautafel- Ästhetik sehr zugute.

Bis 16.3., Do.–So. 15–19 Uhr, Friedrichstraße 122/123

Sechzehnmal ihr gestreng hergerichtetes Gesicht, überdimensional, eine in schwarzrotgelblichen Solarisationseffekten glühende Maske mit einem kleinen, verkniffenen Mund, das ist Katharina Sieverdings „Stauffenberg Block I-XVI/1969“ bei Franck+ Schulte. Big sister is watching you. Zur Ausstellung 1996 in Salzburg wurde ein dünner Katalog mit Texten von Georg Trakl, Stefan George, Thomas Mann, Heiner Müller und Klaus Theweleit gereicht. In diese Herrenriege mit ihren Berichten zur Lage der Nation reiht sich also Sieverding ein. Man mag darin ein notwendiges Intervenieren einer Frauensperson erkennen, also einen politischen Fortschritt. Doch was man sieht, sind aufgeblasene Fotografien.

Jakob Mattners Lichtraum ist gediegen. Drei Alufolienschwingen, silbern- und bronzefarben bedampft und mit einem kleinen Ventilator versehen, der sie zum Flattern bringt, sind so im Raum installiert und zum Deckenstrahler ausgerichtet, daß sich zwei silberne und ein goldenes Lichtspiel ergeben. Sie wirken, man muß es wohl so sagen, sehr poetisch. Und unheimlich gepflegt.

Bis 29.3., Mo.–Fr. 11–18, Sa. 11–15 Uhr, Mommsenstraße 56

Brigitte Werneburg