: Die Immunität in der Duma ist unbezahlbar
Dubiose Figuren der russischen Halbwelt bewerben sich um das Exmandat von Alexander Lebed ■ Aus Tula Klaus-Helge Donath
Landsleute, wählt Bürger aus Tula in die Duma“ steht auf einem blütenweißen Transparent. Es grüßt den Reisenden schon am Stadtrand und weist ihm den Weg ins Zentrum. In der Halbmillionenstadt im Süden Moskaus finden am Sonntag Wahlen statt. Ein Nachrückermandat für die Duma ist zu vergeben, nachdem Alexander Lebed im Sommer vergangenen Jahres den Parlamentssitz räumen mußte, um im Kreml als Sicherheitssekretär zu dienen.
Und wieder ein Spruchband „Tula den Tuljaken“, diesmal rot auf weiß. Im Hintergrund rühmt eine Parole aus Sowjetzeiten „die Heldenstadt Tula“. Der Zahn der Zeit hat Insignien und Symbole des Kommunismus verschont. Nicht jedoch den Militärisch-Industriellen Komplex (MIK), der die Stadt früher beherrschte. Die Architektur erzählt von vergangenem Stolz und Reichtum ihrer Bürger. Heute grassiert Arbeitslosigkeit, viele Fabriken mußten ihre Tore für immer schließen.
Die gesunkene Wehrhaftigkeit der Stadt spornt angeschlagene Politiker und dubiose Figuren aus der Metropole an, in ihren Mauern ein Mandat für die große Politik zu ergattern. Als wahre Patrioten blutet ihnen das Herz, mitansehen zu müssen, wie diese einstmals selbstbewußte und blühende Waffenschmiede vor sich hinsiecht.
Im Sommer entließ Präsident Jelzin den Chef der Palastgarde, Alexander Korschakow. Aus dem Busenfreund wurde ein Erzfeind, der sich nun anschickt, als Abgeordneter die „Macht zu kontrollieren“. Der Wahlstab des ehemaligen KGB-Generals residiert am Lenin-Prospekt im Büro eines anderen prominenten Präsidentenopfers: Alexander Lebed. Mannsbilder von Schrankstatur und ordenbehangene Afghanistankämpfer in schwarzem Zivil bevölkern den Flur. Die Logistik erledigen Mitarbeiter einer Behörde, die früher vornehmlich Menschen drangsalierte. Diesmal lautet der Arbeitsauftrag Diversion, Irreführung der Journaille.
Im Ortsteil Chomjakowo, in einer mechanischen „Experimentalfabrik“, gelingt es schließlich, Korschakow bei der Arbeit mit Wählern zu stellen. Hundertfünfzig Zuhörer sind gekommen oder vom Direktor geschickt worden. Ihre Physiognomien spiegeln Verzicht und Alkoholmißbrauch wider, nicht erst in der letzten Generation. Korschakow wirkt schüchtern. Jahrelang war er die graue Eminenz, die den Willen des Präsidenten beeinflußt haben soll. Dieser Mann, diese hilflos pralle Uniform, die keinen Satz zu Ende bringt, sich verhaspelt, selbst den eigenen Lebenslauf vom Blatt liest: Spielt er, um vor dem Publikum das Opferlamm zu mimen? Sein Handwerkszeug war die Intrige, nicht die Rhetorik. Unter Beifall signiert er das Gastgeschenk – ein Wahlplakat. Programmatische Aussagen sind nicht vonnöten. Die Generalsuniform reicht, um den notwendigen Respekt zu erheischen. Eine Mischung aus tumbem Nationalismus, geheuchelter Dissidenz und ein paar vage Versprechungen, der Fabrik Aufträge zu verschaffen, stellen die Zuhörer zufrieden. Rentnerinnen fragen geziert, Männer melden sich kaum zu Wort. Das paßt in den Fahrplan, denn der Kandidat hat eigentlich nur zwanzig Minuten Zeit. Draußen hinter Schneewehen wartet seine Kolonne. Jeeps, in denen sich gewöhnlich Moskaus Halbwelt fortbewegt. Korschakow steigt indes in einen beigen Wolga, die Limousine für die bescheideneren Führungskräfte.
Die Wahlkampftrommel rühren seine Freunde, die Afghanistanveteranen, vor Ort. Noch als graue Eminenz im Kreml verschaffte er dem Invalidenverband der „Internationalisten“ Privilegien und Steuervergünstigungen. Millionen, wenn nicht Milliardengewinne strich der Verband mit Schnaps- und Tabakhandel ein, nur kamen die Notleidenden selten in den Genuß. Das Unternehmen der Internationalisten, Kaskade, verteilte kleine Geschenkpakete an bedürftige Pensionäre. In dem Körbchen befinden sich ein Fläschchen Wodka, Tee, Schokolade und ein strahlendes Konterfei des Generals, der nach den Sternen griff, indem er dem Präsidenten treu ergeben jahrelang Türen öffnete. Mehrfach betont Korschakow, daß die Gaben von seinen Gönnern stammen. Auf keinen Fall darf der Eindruck entstehen, er selbst sei vermögend. In Chomjakowo stört es niemanden, daß der Kandidat nur zugereist ist. Die Kampagne „Tula den Tuljaken“ wird denn auch Moskau zugeschrieben. Anatoli Tschubais, der Stabschef des Präsidenten, wolle so Korschakows Rückkehr in die Politik verhindern.
Über dem Pelzgeschäft in der Engelsstraße, das ein Schäferhund bewacht, hat sich noch ein Moskauer Bewerber niedergelassen. Menschentrauben drängeln sich im ersten Stock mit Taschen und Plastiktüten. Schweiß und Trübsinn hängen in der abgestandenen Luft. Ab und an öffnet sich eine Tür, und eine Stimme ruft: „Bezirk Proletariat“, und fünf, sechs Gestalten verschwinden gleichzeitig im Nebenraum. Hier befindet sich der Wahlkampfstab der Moskauer Schönheit Jelena Mawrodi. Auch sie möchte gerne ihr Volk im Parlament vertreten. Auf Hochglanz lächelt das ehemalige Model von den Wänden. Mal in weißem Pelz als Verführung aus 1001 Nacht, ein andermal als energische Frau mit Terminkalender und mehr als einem Karat im Ohr. Derzeit quält sie eine Grippe, die sie zu Hause in Moskau ans Bett fesselt. Doch das stört hier niemanden. Denn Frau Mawrodi läßt Geld verteilen. Womöglich das, was ihr Ehemann, der Finanzjongleur Mawrodi, mit der Firma MMM den Russen auf betrügerische Weise aus den Rippen geleiert hat. Die Firma machte von sich reden, als im Sommer 1994 die Finanzpyramide zusammenbrach und Millionen Kleinaktionäre ihrer Anlagen beraubte. Wieder geht die Tür auf, diesmal ist der „sowjetische Bezirk“ an der Reihe.
Chalit Jachin hat sich ein geniales Wahlkampfsystem ausgedacht. Er heuert „Agitatoren“ an, die Jelenas Mission unters Volk bringen. Intellektuelle Großmeister verlangt die Aufgabe nicht. Der auserwählte Agitator erhält einen Vertrag und mit ihm 3.000 Rubel (80 Pfennig), dazu fünf Formulare pro Tag, die Jelenas Vision einer besseren Zukunft nebst einem Adressenfeld enthalten. Der Agitator sucht sich einen zu Agitierenden, liest vor oder läßt lesen. Dann füllt er die persönlichen Daten des Unterwiesenen ein. Kehrt zurück in den Stab und erhält pro Formular nochmals 3.000 Rubel. Als die Kampagne Ende Dezember anlief, zahlte Frau Mawrodi gar zwölf Mark. Einige brachten es so auf erkleckliche Summen.
„Wir überprüfen die Angaben sehr genau“, wehrt Jachin ab, um den Verdacht von sich zu weisen, die ganze Geschichte sei Schabernack. Auf den düsteren Gängen wird es unterdessen immer enger und stickiger. In Scharen schieben sich die Menschen die Treppen hinauf. „Der letzte Tag, um neue Formulare zu bekommen“, meint eine ältere Frau, die seit Monaten von ein paar Groschen Arbeistlosenunterstützung leben muß. Jachin verteidigt seine Methode „Wahlkampf und Sozialhilfe“: Ob die Rechnung aufgeht?“ Der Name Mawrodi ist in aller Munde. Der Vertrag, der „eine Nische der Wahlgesetzgebung nutzt“, verpflichtet die Werber nicht, für ihre Gönnerin zu stimmen. Doch baut der gerissene Duma-Abgeordnete auf den „Loyalitätseffekt vor der Wahlurne“. Die Aktion funktioniert nach dem Schneeballprinzip. Es sei doch besser, den Bedürftigen Geld zuzustecken, als dem Fernsehen Tausende Dollar für eine Minute in den Rachen zu schmeißen. Im ersten Moment verdient dieser Zugang Lob. Haben Rußlands Neureiche ihre soziale Verantwortung entdeckt? Gerüchte aus der Hauptstadt sehen es anders. Ehemann Mawrodi bastelt an einer neuen Pyramide. Ehefrau Jelena im Parlament und einige hunderttausend Dollar Wahlkampfgeschenke könnten das Image aufpolieren. Schließlich kennt er seine Klientel. Schaden macht nur in Ausnahmefällen klug. Die Skrupellosen bauen weiterhin auf die Leichtgläubigkeit des ganz einfachen Volkes. Elektroschweißer Juri Wrjabow wartet schon seit zwei Stunden. Insgesamt wird er wohl sechs warten müssen, meint er und blättert in der Glanzzeitschrift liza nach Persönlichkeiten, zu denen auch Jelena Mawrodi zählt. „Wo ich meine Zeit absitze, ist doch eigentlich egal“, lächelt er, „hier krieg ich noch was dafür.“
Aus dem Gefängnis in Tula bewirbt sich indes eine Lokalgröße um den Parlamentssitz. Der Vorsitzende der Partei der Wiedergeburt Rußlands, ein Herr Nikolai Nowikow. Dem ehemaligen Meister einer ostasiatischen Kampfsportart werden Unterschlagung und Freiheitsberaubung zur Last gelegt. Seit zwei Jahren hockt er hinter Schloß und Riegel, ohne daß das Verfahren eröffnet worden wäre. Eine Besonderheit des russischen Strafrechts. Sein Rechtsanwalt hofft, den juristischen Instanzenweg abzukürzen. Ein Mandat für die Duma würde seinem Klienten die Immunität bescheren. Allerdings konnte Nikolai Nowikow nur passiven Wahlkampf betreiben. Der Antrag des Anwalts, ihn unter Aufsicht einer Polizeikohorte vor Wählern auftreten zu lassen, wurde vom Gericht abgewiesen. Dabei ist Nowikow ein waschechter Tuljake.
Schließlich gibt es da noch den Schachweltmeister Anatoli Karpow, der einige Jahre seiner Jugend in Tula verbrachte und hier „seine erste Liebe traf“. „Anatoli Karpow – Rußlands Stolz und Tulas Hoffnung“ lautet sein unbescheidener Werbespruch. Im Kulturhaus trifft er auf eine Versammlung der lokalen Intelligenz. Der egozentrische Schachspieler und das Fußvolk halten eine Memorienmesse, trauern gemeinsam einer Zeit nach, die es mit ihnen besser meinte. Ihre einzige Antwort auf die Herausforderungen der Gegenwart: Rußland und der internationale Waffenmarkt gehören den Russen.
Hält der Sturm der Halbwelt auf die Staatsduma an, dürfte sie bald zum Sammelbecken der russischen Hochkriminalität werden. Immunität ist schließlich kaum bezahlbar. Glücklicherweise haben die russischen Wähler an der Urne bisher immer Vernunft bewiesen.
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