Wahrsätze im Kinderbuchformat

Freut euch, fürchtet euch! – Peter Handke ist zurück auf der Bühne. Am Burgtheater inszenierte Claus Peymann die Uraufführung der Menschheitsparabel „Zurüstungen für die Unsterblichkeit“. Ganz großer Jubel in Wien  ■ Von Petra Kohse

Es ist mühsam“, sagte eine Frau in der Pause, „aber es wird ein Erfolg.“ Der Schlußapplaus gab ihr recht: Das Publikum des Wiener Burgtheaters hatte der Uraufführung von Peter Handkes „Zurüstungen für die Unsterblichkeit“ nach jeder Szene eher höflichen Beifall gespendet, sich aber am Ende zum ganz großen Jubel entschlossen. Die Einzelverbeugungen der Schauspieler (Gert Voss! Anne Bennent! Martin Schwab!) wurden aus dem Parkett und den Rängen mit immer neu anschwellender Euphorie beantwortet, und der Beifall für den Regisseur Claus Peymann kam geradezu einer Kundgebung gleich. Auch der Dichter selbst ließ sich, von Peymann freundschaftlich an die Rampe geschubst, verlegen von Bravorufen umbranden.

Dabei war diese Uraufführung durchaus keine eindeutige Sache. Peter Handke hat etwas schier Unmögliches versucht: Er hat eine Parabel auf die ganze Menschheit geschrieben. Nicht einzelne gesellschaftliche Verhältnisse interessierten ihn, sondern die Gesellschaft als Ganzes, als Idee. Unter dem Eindruck des Bürgerkriegs auf dem Balkan stehend, verfaßte er – noch vor seinem wegen der barschen Medienkritik umstrittenen Reisebericht „Gerechtigkeit für Serbien“ – einen Theatertext, der nicht ignoriert, daß die Welt in Einzelteile zerfällt, aber trotzdem noch einmal alles zusammendenken will. Ein poetischer Versuch mit politischem Anspruch, Märchenspiel und Lehrstück zugleich, wobei das eine dem anderen ständig auf die Füße tritt.

Die Zeit ist „vom letzten Kriege bis jetzt und darüber hinaus“, der Ort „eine Enklave zum Beispiel im Bergland von Andalusien“. Ein geknechtetes Volk in einer parzellierten Welt wird gezeigt. Ein Volk, dessen Männer von fremden Armeen eingezogen werden, um im Kampf gegen Fremde in der Fremde zu fallen. Der „Großvater“ tritt auf und verheißt seinen beiden von Okkupatoren geschwängerten Töchtern, ihre ungeborenen Söhne würden das Volk ins Recht setzen und die „Opferlammhaltung“ beenden können. Tatsächlich scheint sich die Geschichte zunächst in diese Richtung zu entwickeln.

Der eine, Pablo, verbringt Heldentaten im Ausland, woraufhin das Volk Nationalstolz entwickeln kann. Der andere, der Krüppel Felipe, ist die Sanftmut in Person und stabilisiert das neu erblühende Land von innen.

Als Pablo jedoch eines Tages heimkehrt und sich an die Spitze des Landes setzen soll, zeigt sich, daß dieser Held zwar verborgene Quellen finden und jeden Wettkampf gewinnen, das ganz normale Leben aber nicht ertragen kann. Geplatze Schnürsenkel verursachen Tobsucht, bei Pickeln auf der Haut fürchtet er Krebs. Also grübelt er nach einem „Gesetz“, das die Dinge ein für allemal ordnen würde.

Dies wiederum macht ihn anfällig für die „Raumverdrängerrotte“, die ihm seit seiner Kindheit nachstellt. Komplexität ist ihnen ein Graus. Sie erfinden „1-D-Brillen“ und sind auch sonst brutale Gesellen. Ihre dumpfe Gegenwart warnt Pablo davor, sich sein Gesetz allzu starr zu wünschen, aber die „Erzählerin“, die guteste Gutfigur des Stücks gibt ein Zeichen in den Bühnenhimmel: „Wegblenden. Ausstöpseln. Ausschalten.“

Das Stück endet offen. „Das neue Gesetz ist unausweichlich“, sagt die Erzählerin. „Es wird kommen, umgreifend, ausschließlich, fundamental. Eine andere Zeit wird kommen. Eine andere Zeit muß kommen. Freut euch. Fürchtet euch.“ Und noch einmal erscheinen die Raumverdränger als stumme Warnung im Bühnenhintergrund.

Eine Absage an die Ideologielosigkeit und eine Warnung vor Ideologie zugleich, sind diese „Zurüstungen“ eine Sammlung voller Wahrsätze im Kinderbuchformat (Bedenkt vor jedem Fremden die eigene Fremde mit!“). Das utopische Moment bildet die Figur der (beschreibenden, nicht interpretierenden!) Erzählerin, die in der Lage ist, Unrecht „wegzuerzählen“ und Zerrissenes „ganzzuerzählen“ – die Dichtung als Fluchtpunkt, bewußte Naivität, die zur metaphysischen Kategorie erhoben wird.

Indes, Handkes Sprache ist keineswegs so, daß man zu ihr Zuflucht nehmen möchte. Wohl im Bewußtsein, daß er in einer alten Form versucht, das Aktuelle zu fassen, sprechen alle mit dem gleichen geziert-distanzierten, pastoralen Sound – und geben doch vor, am Ende des 20. Jahrhunderts zu leben: Reinhold Messner wird erwähnt, Marlon Brando, Computerprogramme...

Eine entscheidende Frage zukünftiger Inszenierungen dieses Stücks wird sein, wie die „Raumverdrängerrotte“ zu interpretieren ist. Das Niedersächsische Staatstheater Hannover etwa will sich mit Andacht herantasten und beginnt im März eine elfmonatige, fünfphasige Vorbereitung seiner Handke-Premiere. Peymann in Wien hat sich zu einer Comicvariante entschlossen: Vier feist beglatzte Dumpfbacken treten mal als Rugbymannschaft, mal als grauer Schlägertrupp auf, ihre Requisiten (etwa „Raumschluck-, Raumsaug- und -ausknipsgeräte“) sind wie von Daniel Düsentrieb erdacht.

Bemerkenswert ist, daß Peymann diese Eindimensionalitätsprediger, die nachher einfach „weggeblendet“ werden können, nicht als smarte Medienleute mit Kameras zeigt, er an die Empfindlichkeiten, die nach Handkes Serbientext zutage getreten sind, also keinesfalls rühren will. Auch sonst hält sich der Uraufführungsregisseur zurück.

Wie es im Buche steht, so wird es umgesetzt, wobei das Geschick des Bühnenbildners Achim Freyer in jeder Szene gefordert ist. Parzellierte Staaten auf kleinstem Raum, ein landender Fallschirmspringer, „letzte Könige“, die „halb abgewendet stillen Völkern“ zuwinken? Bitte schön, so fängt das Ganze an. Später ziehen Fabeltiere über die halbrunde, stark ansteigende Bühne, Menschen werden zu Fischen, es schneit und wetterleuchtet zugleich, Äpfel fallen nach oben in den Himmel, verbrannte Erde leuchtet grün, Bäume sprießen und verschwinden wieder.

Die zauberspielhaften Verwandlungen der Bühne werden als eigene Inszenierungselemente zelebriert, wie auch sonst der hohe Kunstton vorherrscht. In verschiedenartiger Gestalt: Der Großvater (Wolfgang Gasser) ein echter Tragöde, Martin Schwab als „Volk“ und Urs Hefti als „Idiot“ ein behäbiges Commedia-Pärchen. Traute Hoess und Ursula Höpfner als Mütter von Pablo und Felipe entstammen dem Volksstück, während Anne Bennent als Erzählerin reinstes Kindertheater zeigt: Überdeutlich dehnt sie den Märchenton und illustriert jedes Wort mit einer entsprechenden Geste.

Johann Adam Oest als sanftmütiger Krüppel Felipe ist bei all dem noch am unangestrengtesten, denn selbst Gert Voss als Pablo müht sich eher um eine faustisch-hamletische Zerrissenheit, als daß sie ihm gelänge. Müde spielt er die Todessehnsucht des doch nach dem unsterblichen Gesetz strebenden Helden von Anfang an mit, wodurch das ohnehin spannungsarme Stück noch statischer wirkt.

Ich halte der Welt noch einmal den Spiegel vor, sagte der Dichter, und der Theaterdirektor versprach, alle Register der Kunst zu ziehen. Herausgekommen ist Puppenkistenbarock über letzte Fragen. Wobei die Fragen durchaus von heute sind. Aber die hier bemühten Mittel kommen ihnen nicht bei. Weder die altväterlichen Salbereien unter dem „immer freien, hellen Himmel“ eines kosmopolitischen Anderlands, noch das regenbogenfarbene Kleid der munter hüpfenden Erzählerin ersetzen die jeweils spezielle Analyse möglicherweise globaler Probleme. Das „einfache Anschauenkönnen“ will Handke lehren, doch zeigt er so viel, daß man gar nichts mehr sieht. Was die Wiener nicht weiter störte.

Zurüstungen für die Unsterblichkeit“ von Peter Handke. Regie: Claus Peymann. Ausstattung: Achim Freyer. Burgtheater Wien