Tempel des Ungehorsams

In Paris hat Renzo Piano das Centre Pompidou gebaut, für Berlins Mitte gestaltet er den Potsdamer Platz neu. Seine Entwürfe werden jetzt in Bonn gezeigt  ■ Von Klaus Englert

Nach der Meinung Renzo Pianos gibt es für den Architekten immer genügend Arbeit. Diese Einsicht sei ihm in Japan gekommen, wo es einen Tempel gibt, der alle 20 Jahre abgerissen wird. Kein priesterlicher Geheimkult, sondern architektonisches Zweckdenken offenbart sich in dieser merkwürdigen Tradition. Denn, so will es die Überlieferung, kommt ein junger Mann mit 20 Jahren zum Tempel, dann wird er lernen, wie man ihn baut. Kommt er mit 40 an denselben Platz, so wird er in der Lage sein, ihn selbst zu bauen. Gelangt er schließlich mit 60 ein weiteres Mal dorthin, wird er erfahren genug sein, das Tempelbauen zu lehren. Und die Moral der Geschicht': Als Renzo Piano über die Parabel nachdachte, entschloß er sich, auch er müsse an der Schwelle zum 60. Lebensjahr sein Wissen weitergeben. Allerdings nicht in Gestalt eines Tempelbaumeisters, sondern als Ausstellungsmacher.

Zusammen mit dem „Renzo Piano Building Workshop“ hat der 1937 in Genua geborene Stararchitekt sein Atelier entrümpelt, um anderen Architekten und Architekturinteressierten Einblick in die verschiedenen Planungsphasen seiner Projekte zu verschaffen. Herausgekommen ist eine Werkpräsentation, die man sich facettenreicher kaum vorstellen kann: Fotos, Computerstudien, Planskizzen mit Grundrissen, Aufrissen und Seitenrissen; dazu selbstverständlich Modelle neuer Projekte mit didaktisch aufgearbeiteten Bild- und Texttafeln und, nicht zu vergessen, eine Reihe PCs, die allerdings eher dürftig über die Projekte informieren.

Bei der Ausstellungseröffnung vergaß Renzo Piano natürlich nicht, von seinem eigenen „Tempel“, dem Centre Pompidou, zu sprechen. Dieses Megamuseum im Zentrum von Paris machte den jungen Architekten vor 25 Jahren schlagartig berühmt. Mit seinem Kollegen Richard Rogers tüftelte er damals in ihrem gemeinsamen Londoner Büro einen Plan aus, der endgültig Tabula rasa machen sollte mit den „traurigen und verstaubten Museen“. Piano und Rogers wollten bewußt aus einer kontextbezogenen Architektur ausscheren; sie konzipierten ein Gebäude, das wie ein Fremdkörper aus dem städtischen Umfeld herausragen sollte. Mit einer funktionalistischen und irgendwie gemäßigten Moderne hatte dieser Entwurf nichts gemeinsam. Heute schreibt Piano, daß sein jugendlicher Vorwärtsdrang ihn dazu getrieben habe, eine „Stadtmaschine“ als Ausdruck seines zivilen Ungehorsams zu konstruieren, eine Maschine als Parodie auf die technischen Phantasien der Zeit. Die Trotzhaltung geriet dennoch so überzeugend, daß das Röhrenmonstrum unter 700 Einsendungen den Sieg davontrug; noch heute scheint es die berückende Fremdheit zu sein, die seinen Reiz ausmacht.

Vor einem Jahr ist Piano an den Ort seines frühen Ruhms zurückgekehrt, um sich dem „Tempel“ erneut zu widmen. Auf diese Weise holt ihn die japanische Anekdote ein: Die Ausstellung zeigt die Bauvorhaben, die nun im Beaubourg und auf dem Place Stravinsky anstehen. Hier zeigt sich, daß die flexiblen Grundrisse und Modulbauweise des Beaubourg spätere Veränderungen unproblematisch machen. Ähnlich einer Maschine, in der einzelne Teile ersetzt werden können, versucht Piano, verschiedene Elemente der „Kulturmaschine“ neu zu ordnen. So sollen die Verwaltungsbüros ausgelagert, Bibliothek und Ausstellungsräume vergrößert werden. Zu diesen neuen Aufgaben gehört auch die Rekonstruktion von Brancusis Atelier auf der Piazza vor dem Beaubourg.

Eines der hervorstechendsten Merkmale dieser „Werkstatt“- Ausstellung ist die Präsentation eines Architekten, der so gar nicht in die traditionellen Bauweisen paßt. Einen eigenen Stil, wie etwa Richard Meiers Architektur mit den bekannten durchlässigen weißen Fassaden, gibt es bei Piano nicht. Nach der Fertigstellung seiner Pariser „Stadtmaschine“ von 1971 etwa widmete er sich einem völlig unspektakulären Projekt: Im italienischen Otranto gründete er einen „Neighbourhood-Workshop“. Ziel dieses Projektes war, die zu einem großen Teil arbeitslosen Bewohner als „Gemeindearchitekten“ in einer mobilen Werkstatt in die Sanierung und Erhaltung des historischen Stadtviertels einzubeziehen. Der italienische Philosoph Gianni Vattimo lobte damals das Pilotprojekt als „behutsame Baustelle“. Aber auch spätere Projekte wichen deutlich von den einmal gesetzten Vorgaben ab. Zwar wagte sich Piano 1982 in Houston nochmals an einen Museumsbau, doch fast alle Voraussetzungen, die für Beaubourg galten, wurden hier für nichtig erklärt. In der Menil-Collection wird die Technologie nicht demonstrativ nach außen gekehrt, sondern die höchst raffinierte Konstruktion, die für ein abgestimmtes und genau berechnetes Maß von Transparenz, Leichtigkeit und Lichtvibration sorgt, bleibt verborgen. Unter einem Glasdach gewährleistet die serielle Anordnung von blattförmigen Dachmembranen eine exakte Ausbalancierung der Helligkeitswerte.

Im Katalog geht der amerikanische Architekturkritiker Kenneth Frampton auf die „völlig unterschiedliche Handschrift“ Pianos ein. Je nach Lage des Standortes habe er einen Produktionsmodus entwickelt, der die Gegebenheiten des Ortes reflektiert. Zeugen die farbigen Entlüftungsrohre des Beaubourg von einem fröhlichen, expressiven Gestus in einer eher grauen Stadtlandschaft, dann paßt sich die Menil-Collection mit ihrer ausgeklügelten Technik optimal topographischen und klimatischen Bedingungen an.

Dies gilt auch für eines der interessantesten Projekte Pianos, das sich wohltuend neben Megaprojekten à la Beaubourg oder Kansai International Airport in Osaka heraushebt: Im neukaledonischen Nouméa baut Piano seit 1993 das kanakische Kulturzentrum Jean Marie Tjibaou, bestehend aus zehn hochaufragenden Hüttenkonstruktionen, deren Materialbeschaffenheit an die traditionellen Wohnstätten der Kanaken erinnern soll. Doch natürlich geht es Piano auch in Nouméa nicht um nostalgische Architektur. Entsprechend hat er nicht nur ein durch Computer erprobtes passives Belüftungssystem ausgeklügelt, sondern einheimische mit modernen Materialien kombiniert.

Hauptattraktion der Ausstellung ist zweifelsohne die Präsentation der Modelle zum Potsdamer Platz in Berlin. Es hat den Anschein, als wolle Piano am Ende des 20. Jahrhunderts die nicht verwirklichten revolutionären Entwürfe für Berlin endlich vollenden. Plötzlich meint man, siebzig Jahre nach ihrem Entwurf, Mies van der Rohes „Glashochhaus“ und Walter Gropius' „Totaltheater“ zu erkennen. Haben uns also die utopischen Projekte der Moderne mit dem übergeordneten Masterplan für das neue Berlin wieder eingeholt? Oder sollte sich doch Renzo Pianos Traum verwirklichen: „Unser Entwurf zielt auf eine andere Dimension städtischen Lebens, eine vitale, fröhliche, von öffentlichen Aktivitäten pulsierende; er möchte damit nach den Tragödien des Krieges und der Nachkriegszeit an die Dynamik der zwanziger Jahre anknüpfen.“

„Renzo Piano: Out of the Blue“, bis 6. April 1997; Bundesausstellungshalle Bonn. Katalog: 38 DM