„Wer löscht den nächsten GAU?“

Seit Wochen sind in Rußland Tschernobyl-Invaliden im Hungerstreik. Sie fordern ihre ausstehenden Renten. Die sind, laut Gesetz, 20mal höher als normale Altersbezüge  ■ Aus Moskau Klaus-Helge Donath

„Liquidatoren von Tschernobyl warten auf den Tod“, steht an der Wand. Ein Transparent fragt: „Wer löscht den nächsten GAU?“ Im Saal des „Palastes der Bergarbeiter“ leuchtet schummriges Licht. Entkräftete Gestalten liegen auf Behelfsbetten. In Kirejewsk, im Süden des Moskauer Kohlebeckens, traten 25 Bergarbeiter, die als Liquidatoren im AKW Tschernobyl löschten, Mitte Januar in einen Hungerstreik. Kurz darauf schlossen sich hundert Bergleute aus Jekaterinenburg an.

Die Liquidatoren fordern vom Staat, was ihnen gesetzlich zusteht. Seit Monaten warten sie auf ihre Invalidenrente. Am 6. Februar kam ein Emissär des Finanzministeriums mit Geld vorbei. Die Tschernobyl-Opfer setzen ihren Streik fort. Juri Rukasonkow von der Tschernobyl-Gesellschaft erklärt: „Er brachte zwar Geld, aber nicht alles.“

In Rußland leben einige 100.000 Liquidatoren. Die genaue Zahl ist unbekannt, da das zentrale Register nur 162.000 Personen führt. Das Gesundheitsministerium geht davon aus, daß nur ein Drittel der tatsächlich Bedürftigen erfaßt wurde. Der Staat, der seine Leute ins nukleare Inferno schickte, kommt trotz Versprechungen nicht für sie auf. Eigentlich eine Ungeheuerlichkeit, die das negative Bild Rußlands weiter verdunkelt. Dem ist diesmal nicht ganz so.

Die Liquidatoren in Kirejewsk erhielten eine Invalidenrente von durchschnittlich 20 Millionen Rubel monatlich. Umgerechnet sind das 3.700 US-Dollar. Dazu noch ihre normale Pension von 150 Dollar. Die Invaliden erhalten damit mindestens das zwanzigfache dessen, was ein gewöhnlicher Rentner bezieht. In Moskau leben 30 Liquidatoren, die monatlich sogar 50 Millionen Rubel erhalten (rund 9.000 US-Dollar). Das Gros der Kranken muß indes mit weniger als 300 US-Dollar auskommen.

1995 erkannte die Duma die Folgen von Tschernobyl als Berufskrankheit an und erließ Bestimmungen, die die Ansprüche regeln sollten. Wer freiwillig nach Tschernobyl gegangen war, setzte zwar seine Gesundheit aufs Spiel, kann finanziell aber nicht klagen. Vor allem Bergleute, die damals weit über dem Schnitt verdienten, erhielten vor Ort noch eine Gefahrenzulage, die das Vielfache ihres Lohns ausmachte. Mit der jährlichen Indexierung erreichen sie heute Renten, von denen andere nur träumen. Aber insbesondere jene Liquidatoren, die sich den Einsatz nicht aussuchen konnten, unter ihnen vornehmlich Soldaten, gehen häufig leer aus. Gut gefahren seien auch, so das Gesundheitsministerium, hochrangige Bürokraten, die mit Geschenken in das Katastrophengebiet reisten, aber nie eine Schaufel in die Hand genommen hätten. Sie hätten sich astronomische Ansprüche erschlichen. Die Invalidenrenten werden aus dem gleichen Topf finanziert wie die anderen Altersgelder. Wenn die Invaliden ihre Bezüge erhalten, müssen einfache Rentner noch länger warten. Die Regierung plant, allen eine einheitliche Invalidenrente von umgerechnet 580 US-Dollar zu zahlen. Man rechnet mit Protesten. Als die Duma die Gesetze verabschiedete, auf die sich einige Invaliden berufen, war wohl der Buchhalter erkrankt.