Wunderland hinter Deichen

Johannes Rau besucht die Niederlande: Trotz ähnlicher Voraussetzungen läuft es bei den Nachbarn wirtschaftlich besser als rheinaufwärts  ■ Aus Amsterdam Falk Madeja

Als „erster deutscher Politiker kommt Johannes Rau das niederländische Wirtschaftswunder studieren“, titelte das Algemeen Dagblad. Tatsächlich geschah in Holland etwas, was merkwürdigerweise in Bonn und Düsseldorf mehr als zehn Jahre kaum jemand mitbekommen hatte. Die Niederlande boomen, im Gegensatz zu Deutschland. Während in der Bundesrepublik neuerlich 500.000 Menschen auf die Straße flogen, kreierten Firmen im Königreich 1996 zirka 124.000 Jobs mehr, als verlorengingen. Johannes Rau war vorige Woche zwei Tage in den Niederlanden, um sich anzuhören, warum das so ist.

NRW und die Niederlande sind verbunden durch Rhein, Straßen und Schienen. Sie sind mit 34.000 und 40.000 Quadratkilometern etwa gleich groß. Auch bei den Einwohnern liegen sie mit 17,8 (NRW) und 15,6 Millionen (NL) ähnlich. Das Bruttoinlandprodukt liegt mit 570 Milliarden Mark in den Niederlanden in etwa auf NRW-Niveau – ca. 700 Milliarden.

Es gibt aber auch wichtige Unterschiede: Die Arbeitsproduktivität ist in den Niederlanden höher, die Lohnstückkosten sind um bis zu 20 Prozent geringer. Doppelt so viele Menschen arbeiten Teilzeit – aber weitaus mehr Frauen als in Deutschland sind wegen Kind und Ehe daheim. In den Niederlanden gibt es viel mehr Jobs in Dienstleistungsbereichen. Bei einer 6,6 Millionen zählenden Berufsbevölkerung arbeiten 0,9 Millionen in der Industrie, während in NRW bei 7,3 Millionen arbeitsfähigen Erwachsenen 2,9 Millionen Menschen in Fabriken ihr Brot verdienen.

In NRW ist die Arbeitslosigkeit mit elf Prozent fast doppelt so hoch wie in den Niederlanden. Den Boom konnte Rau entlang seiner Fahrt durch das Land besehen: Aus dem Boden schießende Bürogebäude künden vom Aufschwung. In Call-Centern etwa, in denen Telefondienste für Unternehmen geleistet werden, entstanden in den Niederlanden über 130.000 neue Arbeitsplätze. Viele davon übrigens für Firmen, die ihren Stammsitz in NRW haben.

Dabei analysierte der damalige Premier Ruud Lubbers noch zu Beginn der 80er Jahre: Das Land ist krank. Gewerkschafter und Arbeitgeber setzten sich zusammen und vereinbarten Lohnmäßigung, Maßnahmen für neue Arbeitsplätze und Streikverzicht. Das Resultat: Holland wirkt heute frecher und flexibler als je zuvor. Die Haager Regierung aus pragmatischen Sozialdemokraten sowie gleichfalls unideologischen Links- und Rechtsliberalen wirkt dynamisch. Das Team von Wim Kok zeichnet sich vor allem durch Experimentiergeist aus. Funktioniert etwas nicht, wird es meist schnell korrigiert. So wurden nach der Reform der Krankenversicherung die dritten Zähne nicht mehr vergütet. Nach Protesten wurde das prompt verändert.

Rau wartet im Vorfeld seines Besuches mit einerseits bewundernden, andererseits typisch defensiven Worten auf. Die Bestrebungen sowohl von der Haager Regierung als auch von Gemeinden und Städten, mehr Firmen aus NRW zum Standortwechsel in die Niederlande zu ermuntern, liegen ihm auf dem Magen. Die „Entwicklungsgesellschaft der Provinz Gelderland“ wollte taiwanesische Firmen aus NRW in die Region Arnheim locken. „Das war nicht freundlich“, sagte Rau. Er will einen Kodex festlegen, in dem beide Länder sich künftig verpflichten, auf derlei Aktionen zu verzichten.

Auch ihre Steuervorteile sollen die Niederländer nicht mehr so stark ausspielen: So besteht dort die Möglichkeit, Verluste ausländischer Zweigstellen von der Steuer abzuziehen. Niederländische Finanzämter haben „Ruling Teams“, mit denen auch ausländische Firmen steuerschonende Absprachen machen können. Kaum vorstellbar, daß die Niederlande darauf eingehen.