Krank bin ich noch lange nicht

■ Bremer Gerontologe befragte Alte nach ihrem werten Befinden

Stefan Raab stuft Herrn K. als gesunden Theoretiker ein. Stefan Raab ist Soziologie sowie Alternsforscher und war im Zusammenhang mit seiner Promotion an Herrn K. interessiert. Seine jetzt veröffentlichte Doktorarbeit tituliert Raab „Gesundheit im Griff“ – Untersuchungsgegenstand ist die Lebenswelt alter Menschen und deren Befinden und Selbstverständnis. Herr K., Jg. 1919, war Volks- und Realschullehrer, ist verheiratet, Vater von vier Kindern, seit seiner Pensionierung VHS-Dozent. Außerdem war K. vor dem Zweiten Weltkrieg Zehnkämpfer und wäre gerne Hochleistungssportler geworden. Herr K. ist auch im hohen Alter noch ein durchtrainierter Typ.

So zumindest wirkt Herr K. nach außen – wie nimmt er sich selbst wahr? Als Gesunden (siehe oben), resümiert Raab die biografischen Interviews mit seinem Protagonisten. Herr K. hat zwar Zeit seines Lebens zahlreiche Sehnenrisse, auch hohes Fieber oder extremen Gewichtsverlust erlitten; diese leiblichen Mißbefindlichkeiten machen ihn in seinen Augen jedoch nicht zum Kranken.

Das hängt unmittelbar mit K.s Lebensgeschichte zusammen, behauptet der Gerontologe Stefan Raab. Sechs alte Menschen über Sechzig aus dem norddeutschen Raum wurden von ihm und mitarbeitenden StudentInnen zum Erzählen animiert. Drei von ihnen (außer Herrn K. noch Frau C., Jg. 1919, sowie Frau H., Jg. 1929) typisiert Raab in seinem Buch. Alle drei waren in ihrem Leben schon einmal dem Tode nahe, sind trotzdem alt geworden und wissen, daß sie nicht mehr allzuviele Jahre vor sich haben, fürchten Krankheit, Pflegebedürftigkeit und das Sterben. Alle drei verstehen sich als gesunde Menschen.

Damit gingen sie auf den ersten Blick mit der Zivilisationstheorie von Norbert Elias konform, der den heutigen Alten moderne Selbstkontrolle und Selbststeuerung zuschreibt. Beim genaueren Hinsehen modifizieren Herr K., Frau C. und Frau H. jedoch Elias' Lehre, sagt Stefan Raab. Nur bei Frau H. sei eine Art Selbstreflexion zu beobachten. Raab charakterisiert sie deshalb als die Kompetente: Frau H. – die fünf Kinder aufzog, nebenbei Jura studierte und jetzt im Alter von 68 Jahren promoviert – strebt in Sachen Gesundheit medizinisches Wissen an. Ihre Kiefernnebenhöhlenerkrankung und die Angina pectoris begreift sie als Teil ihres Lebens und fragt nach Ursache und Wirkung.

Herr K. und Frau C. dagegen bleiben in dem biografisch bedingten Gestrüpp aus Autoritätsglauben und Gehorsam gefangen. Herr K. sportelt sich jeden Gedanken ans Kranksein hinfort. Und Frau C. fühlt sich nach einer Abtreibung, einer Krebsoperation und mit diversen Allergien ebenfalls gesund, hat aber ein grundlegendes Mißtrauen in den eigenen Körper, ist ängstlich (Raab).

Mit ÄrztInnen und TherapeutInnen verhandeln können indes alle drei. Sie sind „Experten in eigener Sache“, haben Laienwissen und negative Erfahrungen angesammelt. Den Vertrauensvorschuß an die MedizinerInnen hat das offensichtlich nicht gemindert. Gerontologe Stefan Raab kommt daher zu dem unprätentiösen Ergebnis: Den Alten muß zugehört werden. Das Erzählen habe alle Interviewten betroffen gemacht, die Gespräche mußten immer wieder unterbrochen werden, es gab Tränen.

Raab, der seine Studie am Institut für Interdisziplinäre Alternsforschung der Bremer Uni gefertigt hat, nimmt auch an Tagesseminiaren zum Funkkolleg „Altern“ teil. Info sip