Das Geschlecht der Politik

Der weibliche Agent und der französische König. War Monsieur d'Eon eine Drag Queen der Aufklärung oder ein Transvestit aus Staatsräson? Männerpaarbildung durch ein Geheimnis funktioniert in verschiedenen Staatsformen  ■ Von Karin Wieland

Sie starb als Mann. Die Chevalière d'Eon hatte die letzten Jahre ihres Lebens in einer Art Londoner Matratzengruft verbracht. Verarmt und vergessen, hatte sie sich ganz ihren christlichen Studien gewidmet. Nach ihrem Tod wurde von einem Arzt festgestellt, daß die fromme Chevalière zweifelsfrei ein Mann war. Diese Tatsache wäre nicht weiter interessant, wenn nicht der Tote sich vor 36 Jahren vom französischen König hätte zur Frau erklären lassen. Die ersten 46 Jahre seines Lebens hatte er als Diplomat und Kriegsheld verbracht. Warum lebte der Chevalier d'Eon die zweite Hälfte seines Lebens als Frau? War er so etwas wie eine Drag Queen der Aufklärung?

Zunächst nahm sein Leben einen erfolgversprechenden Verlauf: Er war ein intelligenter, ehrgeiziger Adeliger aus der Provinz, der in Paris Jura studierte. 1757, mit 29 Jahren, wird er zum Sekretär des französischen Botschafters in Rußland ernannt. In Sankt Petersburg am Hofe der Zarin Elisabeth I. verbringt er seine Lehrjahre der Staatskunst.

Doch was nach außen wie der Beginn einer hoffnungsvollen Karriere aussah, war nur Tarnung: D'Eon war Spion von Königs Gnaden. Er gehörte dem von Ludwig XV. ins Leben gerufenen Geheimdienst (Secret du Roi) an. Seine Aufgabe war es, eine Geheimkorrespondenz zwischen der Zarin und dem König zu lancieren. Als Transportmittel wählte er pikanterweise eine Ausgabe der „Esprit des lois“ von Montesquieu. Der Geist der Monarchie sei der Krieg und die Vergrößerung, hatte dieser geschrieben, und genau in diesem Sinne handelt d'Eon in seiner Doppelrolle als Botschaftssekretär und Geheimagent. Er spielte seine Rollen so gut, daß er mit einer Mission nach London betraut wurde.

Offiziell fungierte er als bevollmächtigter Minister, eigentlich jedoch sollte er die Möglichkeiten für eine französische Invasion auskundschaften. D'Eon erhielt eine vom König abgefaßte Order, in der dieser das „tiefste Geheimnis“ betont, das sie miteinander teilen. Diesem Schriftstück sollte im weiteren Verlauf eine entscheidende Rolle zukommen. Dazu muß man wissen, daß die europäischen Großmächte erst seit Beginn des 16. Jahrhunderts ständige Gesandtschaften unterhielten. Die Entwicklung zum National- und Territorialstaat veränderte die Anforderungen der Politik. Zum Machterhalt nach innen und nach außen wurden Allianzen und Truppen gebraucht. Der Krieg war ein Mittel der Diplomatie geworden. Regierung ist nur dann möglich, wenn die Stärke des eigenen und die der anderen Staaten bekannt ist.

„Wissen ist notwendig, konkretes, präzises und gemessenes Wissen um die Stärke des Staates.“ (Foucault) Dieses Wissen sammeln und beschaffen Männer wie d'Eon. Die im Brief übermittelte Information, das Ausdenken einer Intrige zur Vernichtung des Gegners, die Nutzung und Bewahrung eines Geheimnisses machen die Erotik aus, die den König und seinen Agenten miteinander verbinden. Diese Männerpaarbildung durch ein Geheimnis der Politik kann man heute am Beispiel von Kohl und seinem Geheimdienstchef Schmidbauer studieren. Es scheint ungeachtet der Staatsform zu funktionieren.

Obwohl d'Eon erfolgreich agiert, wird er seines aufwendigen Lebenswandels wegen degradiert. Er widersetzt sich und fühlt sich unverwundbar als Geheimnisträger und Schützling des Königs. Er gewinnt das Kräftespiel gegen die Minister und bleibt in geheimer Mission auf der Insel. In diesen Jahren beginnt er sich mit Rousseau zu vergleichen. Wie der ein Vertriebener der Philosophie, so sei er ein Vertriebener der Politik. Was Jean Starobinski über Rousseau bemerkt, diese eigentümliche Verschmelzung von Theorie und Leben, Idee und Existenz, das praktiziert d'Eon auf radikalste Weise. Irgendwann um 1770 kommen Gerüchte auf, er sei eigentlich eine Frau. Aus Frankreich herbeigeeilte Edelleute bestätigen dies, Wetten werden abgeschlossen, und manch ein Charmeur beteuert, das wahre Geschlecht des Chevalier unter der Bettdecke ertastet zu haben.

Ludwig XV. stirbt 1774, und sein Nachfolger löst den Geheimdienst auf. Doch es gab noch das Problem d'Eon, der mit seinem fragwürdigen Geschlecht und dem kompromittierenden Brief in London saß. Ludwig XVI. beauftragte keinen Geringeren als Beaumarchais mit der delikaten Aufgabe, über Geld, politische Reputation und das wahre Geschlecht zu verhandeln. D'Eon forderte nämlich seine Anerkennung als Frau durch den König. Zur Untermalung erzählte er dem Librettischreiber, er sei einer Erbsache wegen als Junge erzogen worden und der König habe ihn als Zofe zur Zarin geschickt. D'Eon macht sich zum Transvestiten aus Staatsräson und hat Erfolg damit.

An seinem 47. Geburtstag findet die Transaktion statt: Er wird zur Frau erklärt, und der König erhält sein geheimes Schreiben zurück. Das Erstaunliche daran ist, daß den Chevalier zu diesem Zeitpunkt noch kein Mensch in Frauenkleidern gesehen hat.

Der texanische Historiker Gary Kates, der eine Biographie über d'Eon verfaßt hat, geht davon aus, daß er diese Gerüchte selbst verbreitete. Kates zufolge wollte d'Eon sein Gastspiel als französischer Spion beenden und als geachteter und verdienter Staatsdiener nach Frankreich zurückkehren. Als Geheimagent hatte er seine Aufgaben erfolgreich ausführen können, indem er ständig neue Rollen einnahm, in jeder überzeugend wirkte und dabei noch wußte, wer er eigentlich ist. Er wechselte schlicht die Rolle und präsentierte sich als Heldin, die sich als Mann ausgegeben hatte, um für König und Vaterland zu kämpfen. Gleichzeitig war diese Wandlung zur Frau Ausdruck einer moralischen Erneuerung.

Für den Historiker Robert Darnton waren es nicht die großen Ideen der Aufklärung, die zur Revolution geführt haben, sondern der „Rousseauismus der Gosse“ untergrub den Glauben an die Monarchie. Das Hauptaugenmerk der politischen Pornographie lag auf den Ausschweifungen am Hofe Ludwigs XV. Bis heute sind die prominenten Figuren aus dessen Regierungszeit die beiden Mätressen Pompadour und Dubarry. Sie hatten den König entmannt. Es fehlte ihm an virtu, der von Machiavelli entdeckten politischen Kraft und Potenz. Sein ausschweifendes Leben hatte den König politisch impotent gemacht.

D'Eon setzte gegen die Mätresse, die sich mittels ihres Körpers Einfluß auf die Politik verschafft, die Jungfrau, die reine Patriotin, die von Gott gesandt ist, dem König zur Seite zu stehen. Seine Autobiographie nannte er in Anlehnung an Jeanne d'Arc „La Pucelle de Tonnerre“ (Die Jungfrau von Tonnerre). Aus dem weltgewandten Spion war eine streitbare, tugendhafte Amazone geworden. Der Chevalier d'Eon brachte sich mit königlicher Hilfe als Angehöriger des „moralischen Geschlechts“ hervor. 1777 kehrte er nach Frankreich zurück.

Erst auf Anweisung des Königs hin beginnt er sich als Frau zu kleiden. Zeitzeugen äußern sich verwundert über seine Erscheinung, er verhält sich weiterhin wie ein Mann. Er trägt Kleider der Hofschneiderin Marie-Antoinettes und schreibt seine Biographie. Es werden keine Zweifel an seiner Weiblichkeit laut: Die Mode, die biographische Fiktion und die Zuschreibung des Königs haben d'Eon zur Frau gemacht.

Doch ohne Politik war ihm langweilig; 1782 kehrte er nach London zurück. Die von ihm begrüßte Revolution brachte ihn schließlich um seine Pension. Die alternde Frau trat in Fechtkämpfen auf, als eine Reminiszenz an das Ancien Régime. Das Geheimnis seines Geschlechts teilte der Chevalier nur mit sich und nahm es mit ins Grab.

Gary Kates: „Monsieur d'Eon ist eine Frau. Die Geschichte einer politischen Intrige“. Klein Verlag, Hamburg 1996. 386 Seiten, 68 DM