Blauäugige Tontiefe

■ Der Pianist Jewgenij Kissin begeisterte seine Zuhörer in der Musikhalle

Chopins Ballade Nr. 1 op. 23 war in vollem Gang, Jewgenij Kissin ließ gerade das zweite Thema in Strudeln glitzernder Arpeggien versinken, da drang ein winziger Mißton ans Ohr. Wie wenn ein wunderschöner Spiegel bricht, fast unmerklich zwar, aber auch fast unwirklich bei einem manuell so perfekten Pianisten wie Kissin, einem der Größten seiner Zunft. Was war geschehen?

Etwas seltenes. Beim Konzert am Dienstag abend in der Musikhalle war eine Klaviersaite gerissen. Und hatte geradezu sinnbildlich ein Leitmotiv des Abends vorgegeben: Die Verbindung von Gegensätzlichem. In diesem Fall die Verbindung der nahezu zeitlosen Vollendung eines Steinwayflügels mit der schnöden Vergänglichkeit einer Stahlsaite – aus der allein Lebendigkeit und Leben entsteht.

In Kissins Programm kehrte sie wieder: In Chopins erster Ballade in der Art, wie sich die Verlorenheit melancholischer Laune bündeln kann zu triumphalem Überschwang. Oder, in der zweiten Ballade , wie sich ein schubertisch zartes Märchenthema verlieren kann in Gewittern hitziger Prestissimos und zweimal zurückfindet, doch immer gefährdet bleibt. Am Schluß erklingt es in anderer Tonart als am Beginn und nur noch als zager Abbruch.

Kissins Spiel selbst lebte vom Widerspruch zwischen virtuos legitimierter Selbstherrlichkeit – er stellte wahre Geschwindigkeitsweltrekorde auf – und der Gabe, den Faden zwischen sich und dem Publikum hauchdünn werden zu lassen. In wundersamer Inszenierung entstand die Stille spannungsgeladener Innenräume.

In Schumanns Kreisleriana op. 16 finden sich diese Innenräume in nachdenklichen, selbstverlorenen bis in düstere Trauerbezirke reichenden Liedthemen von anrührender Blauäugigkeit und umfassender Tiefe. Sie setzen sich immer wieder ab von Partien auftrumpfender Fingerfertigkeit und pianistischem Witz, denen Kissin durch aberwitzige Tempi auch noch den letzten Rest biedermeierlicher Besinnlichkeit austrieb. In Schumanns Toccata op. 7 schließlich eint er den Gegensatz von Raserei und Kontrolle.

Drei Zugaben. Eine für Hamburger Verhältnisse geradezu karnevalistische Begeisterung.

Stefan Siegert