Eingefrorene Wünsche

Als hätte das „Atomic Café“ nie aufgehört zu existieren: „Memories“, ein japanischer Episodenfilm der „Akira“-Zeichner (Forum)  ■ Von Bettina Allamoda

Vor sechs Jahren hat der japanische Zeichentrickfilmer Katsuhiro Otomo „Akira“ gedreht. Seitdem werden die meisten Comicfilme an dieser irrwitzigen Animation aus mutierenden Fleischbergen, Jugendlieben und Gangritualen gemessen – auch die eigenen Produktionen von Otomo.

Damit sich die Erwartungshaltung auf mehrere Personen verteilt, hat Otomo für den Episodenfilm „Memories“ mit zwei seiner damaligen Kollegen zusammengearbeitet: Koji Morimoto und Tensai Okamura waren bei „Akira“ für Dekor, Hintergründe und Animation zuständig. Trotzdem blieb jeder der drei Zeichner bei „Memories“ für seine eigene Story verantwortlich.

Der erste Teil, „Magnetic Rose“, spielt im Jahr 2092: Eine Gruppe Kosmos-Müllmänner sucht in ihrem Raumschiff das All nach brauchbarem Altmetall ab. Als sie einen SOS-Notruf in Form einer Opernarie aus „Madame Butterfly“ erhalten, entdeckt die Crew ein gigantisches rosenförmiges Raumschiff. Die Besatzungsmitglieder Heintz und Miguel müssen hinaus ins feindliche Gebiet.

Dort stellen sie fest, daß die Raumfestung von einem computergesteuerten Hologrammsystem betrieben wird, das aus den eingefrorenen Wünschen der angeblich am 3. Juli 2031 verstorbenen Operndiva Eva Freedel als virtuelle Welt zusammengebastelt wurde, die sich kaum von der Wirklichkeit ihrer eigenen Erinnerungen unterscheidet.

Koji Morimoto setzt seine Erzählung über Irrungen und Wirrungen der Phantasie bis ins kleinste Detail um – sogar die Störungseffekte der defekten Hologramm- oder Videoübertragung flimmern verzerrt über die Leinwand. In dieser technischen Perfektion spiegelt sich der technische Verfall einer Welt wider, die in der Utopie einer medialen Zukunft angesiedelt ist. Doch in der Konfrontation mit den eigenen futuristischen Vorstellungen zerfällt der Cyberspace selbst wie eine Müllhalde.

In „Stinkbomb“ von Tensai Okamura korrespondiert die winterliche Landschaft des Kofu-Tals im Norden von Tokio eher mit klassischen japanischen Aquarellen und Tuschezeichnungen. In diesem geruhsamen und traditionellen Ambiente zieht sich irgendwann eine tödliche, schwefelig gelbe Wolke zusammen, die ein gewisser Nobuo Tanaka mit sich herumschleppt.

Der Labortechniker der Firma Nishibashi Pharmaceuticals hat aus Versehen eine rote Versuchskapsel aus dem Büro seines Chefs geschluckt, weil er sie für ein probates Erkältungsmittel gehalten hat. Plötzlich mutiert der junge Laborant zur biologischen Kampfmaschine. Trotzdem soll er das tödliche Mittel unversehrt nach Tokio, zum Institut für biomedizinsche Kriegsführung bringen.

Das Ganze bleibt nicht ohne Konflikte, alles nur denkbare Militär, Raketen, Panzer und Riesenluftturbinen, wird mobilisiert, um das Gas aufzuhalten, das aus seinem Körper strömt und Japan verpestet.

Schließlich setzen die Amerikaner ihre neueste Raumfahrttechnik ein, die der arme Zauberlehrling allerdings auch überlebt.

Katsuhiro Otomo selbst hat allein „Cannon Fodder“ gezeichnet und darin die Geschichte von „Akira“ konsequent weitergedacht: ein Zeichentrickfilm wie ein Schlachtengemälde. Das Design der Architektur, die Ausstattung der Schauplätze und sogar jede einzelne Figur wirken wie eine Illustration aus dem Zweiten Weltkrieg, ab und zu tauchen sogar SS-Runen als zackige Lettern auf. Alles sieht ein wenig nach der Animationen alter Monty-Python-Folgen aus.

Das Panorama der Stadt etwa besteht aus unzähligen rot leuchtenden Kanonenrohren, die wie Riesenfernrohre in den Himmel ragen. In diesem camouflagefarben grün-braun-grauen Alltag spielt sich der immergleiche Alltag einer Kleinfamilie ab, als hätte das „Atomic Café“ nie aufgehört zu existieren: Vater arbeitet als Kanonenlader, Mutter produziert die Munition, und der sechsjährige Sohn träumt in seinen Kinderstrichzeichnungen davon, einmal in preußischer Strenge als Oberhaupt an der Kanone eingesetzt zu werden.

So wird der Krieg bei Otomo zur Zeitschleife, an die sich alle längst gewöhnt haben wie an einen Alptraum, der stets wiederkehrt.

„Memories“. Japan 1995. 113 Minuten. Regie: Koji Morimoto, Tensai Okamura, Katsuhiro Otomo.

Heute: 24 Uhr im Delphi; 15.2: 15 Uhr im Arsenal