Wohnen zwischen Elbschlick

Statt auf Deponien zu vergammeln, darf sich ein Teil des giftigen Baggerguts aus der Elbe nützlich machen: als Ziegelstein  ■ Von Heike Haarhoff

Das deutsche Mittelgebirge erhebt sich zu beiden Seiten des Weges durch die Lagerhalle in Hamburg-Neuenfelde. An der linken Wand ragen die Marschen-Tonhügel empor, rechts türmt sich schlickig-braunes Baggergut aus der Elbe. „Fassen Sie ruhig mal an“, ermuntert Lothar Schneider Fremde, die hier im Grenzgebiet zum Alten Land die Exotik der Arbeitswelt suchen.

Lothar Schneiders Attraktion ist die Hanseaten-Stein, Hamburgs einzige und Deutschlands erste Ziegelei, die die roten Bau- und Klinkersteine nicht aus Ton, sondern aus Hafenschlick herstellt. „Wer sich in Hamburg das Spektakel um den Elbschlick und die Probleme mit seiner Deponierung ein paar Jahre lang angeguckt hat, sucht irgendwann nach eigenen Lösungen.“ Lothar Schneider hat sie gefunden: Das feinkörnige Material, das sich in den Fahrrinnen der Elbe und den Hafenbecken ablagert und deshalb regelmäßig für die Schiffe ausgebaggert werden muß, ist „tonartig und lehmig“. Kühl und feucht fühlt es sich an, läßt sich wie Knetmasse formen und eignet sich damit hervorragend zur Keramisierung, wie die Ziegelproduktion in der Fachsprache heißt.

Nur: Wohnen in Gemäuern aus giftigem, wenn auch recycelten Abfall? Leben zwischen Wänden aus Stein, in dessen Innerem Schwermetalle wie Cadmium und Blei, Schadstoffe wie Zink, Quecksilber, Arsen, Chrom, Kupfer und Nickel schlummern? Bange Fragen sind für Ziegel-Chef Schneider eine rhetorische Herausforderung. „Das ist wie mit Bleikristall. Wenn Sie das Zeug mit Löffeln fressen, ist es wenig bekömmlich. Aber im Glas merken Sie's nicht.“ Mit dem Elbschlick sei das ähnlich: Erstens komme der bereits gefiltert und gereinigt aus den Aufbereitungsanlagen von Strom- und Hafenbau in die Lagerhallen. Beim Brennen in einem 1200 Grad heißen Spezial-Ofen werden die verbliebenen Schadstoffe dann gebunden; der Rest wird über eine Rauchgasreinigungsanlage abgesaugt. „Über diese Wohngifte und spätere mögliche Reaktionen der hochgradig verseuchten Stoffe in den Ziegeln ist überhaupt nichts bekannt“, ist GAL-Wirtschaftsreferent und Umweltbaustoffexperte Detlev Grube dagegen skeptisch.

Zwar gibt es „keinen regionalen Ton-Notstand“ in den Marschlanden, doch ist Hafenschlick der weitaus billigere Rohstoff: Dankbar zahlt die Stadt Hamburg für die Abnahme jeder Tonne Schlick noch drauf; wieviel, bleibt geheim. Seit Jahren suchen die Strom- und Hafenbauer händeringend nach Deponiestandorten, wo sie ihr giftiges Flußgut loswerden können. Da erscheint es geradezu genial, wenn einer wie Lothar Schneider, Geschäftsführer der Hamburger Müllfirma „Entsorgung Transport Handel GmbH“ (ETH), daherkommt und zusammen mit der Baustoffirma „OAM Handel und Umschlag GmbH“ ein Tochterunternehmen gründet, in dem das ungeliebte Baggergut auch noch recycelt und vergoldet wird. Dabei ist ETH nicht unumstritten: Das Unternehmen soll sich an dem Export und der Aufbringung von verseuchtem Hamburger Straßenlaub auf Feldern in Mecklenburg-Vorpommern beteiligt haben. Auch Geschäftskontakte zur Mülldeponie in Schönberg werden ihr nachgesagt.

Voriges Jahr wurde die uralte, 1994 stillgelegte Ziegelei in Neuenfelde umgebaut und zu einem Versuchsbetrieb modernisiert. „Zwölf Millionen Mark haben wir investiert, das sind unter betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten für ein Unternehmen dieser Größe 25 Prozent zuviel.“ Doch den Firmeninhabern und ihren 25 Beschäftigten geht es in erster Linie nicht darum, sich auf dem regionalen Markt zu behaupten. „Probleme mit Flußschlick gibt es weltweit. Wir haben schon Anfragen aus Asien und Amerika, die sich für unser Ziegel-Patent interessieren“, sagt Schneider.

Das Gemisch besteht je zur Hälfte aus herkömmlichem Ton und Schlick. „Elbsediment allein wäre zu porös“, erklärt der Geschäftsführer. Die Ziegelei hat sich zum Ziel gesetzt, langfristig fünf Millionen „Rohlinge“ jährlich zu backen und sie zu marktüblichen Preisen (0,80-1,00 Mark) zu verkaufen. 30.000 Tonnen Elbschlick würden dazu benötigt – die Hafenschlickproblematik (jährlich 2,5 Millionen Kubikmeter) wird dadurch selbstverständlich nicht gelöst. Derzeit ist Neuenfelde ohnehin noch ein reiner Versuchsbetrieb, der im Dezember startete und „derzeit Erfahrung durch Mißerfolge sammelt“. Ziegelscherben-Haufen und kümmerlich in sich zusammengesackte Steine in den insgesamt drei Hallen mit Transportbändern, Knet- und Walzapparaten, Schlammgeruch, Staub, Hitze, Druck, Dampf und dem gigantischen Gegenlauf-Tunnelofen dokumentieren sie. „Manchmal machen fünf Grad Temperaturunterschied die ganze Produktion zunichte.“

Im Idealfall wird der Schlick zunächst in einer Dampfanlage, die gleichzeitig Schadstoffe herausfiltert, zu Pulver getrocknet. Das ist ziemlich aufwendig. „Normaler“ Ton kann direkt zu Steinen geformt werden; das Elbschlick-Pulver muß nach der Trocknung wieder mit Wasser angereichert werden. Die Drehtischtrockenpresse formt das Material dann zu Quadern, die auf einer Lore gestapelt und über Schienen zum Brutzeln in den deckenhohen, 80 Meter langen Ofentunnel fahren. Im Unterschied zu herkömmlichen Öfen besitzt der Gegenlaufofen nicht bloß eine, sondern zwei entgegengesetzte Backröhren, die einen geschlossenen Luftkreislauf bilden. Auf diese Weise können mehr Ziegel mit weniger Energie hergestellt werden, und das Risiko, daß während des Brennens doch Schadstoffe austreten, wird minimiert: Die Abluft gelangt direkt in die Rauchgasreinigungsanlage.

Wie dunkel die Ziegel werden, liegt an der Sauerstoffzufuhr während des Brennens: Viel Sauerstoff macht sie hell, wenig läßt sie dunkelrot-bläulich schimmern, „wie es die Hanseaten gern mögen“, grinst Lothar Schneider.