■ Der Erfolg Le Pens spiegelt auch das Bedürfnis nach Helden wider, das Frankreich immer noch beherrscht
: Eine Krankheit namens Vitrolles

Als ich Frankreich vor 10 Jahren verließ, um im Ausland zu leben, wagten diejenigen, die den Ideen der Front National anhingen, nicht, die Stimme zu erheben. Verschämt verdrückten sie sich hinter den Pappwänden der Wahlkabine, um ihr Kreuzchen zu machen. Die Front National galt als eine nicht sehr saubere, nicht sehr demokratische, nicht sehr ordentliche Angelegenheit. Es war etwas peinlich, ihrem Credo zu folgen.

Heute zögern die Anhänger der Front National keinen Augenblick, sich öffentlich zu ihr zu bekennen. Der Bäcker des Quartier, bei dem ich morgens meine Croissants kaufe, wenn ich in Frankreich bin, trompetet seine Parteinahme für Le Pen über den Ladentisch. Ein alter Freund der Familie erklärt im Ton felsenfester Überzeugung und mit vor Wut vibrierender Stimme, daß er nicht sein Leben lang dafür gearbeitet habe, daß jetzt die Ausländer kommen und ihm die Butter vom Brot nehmen. Er preist die Front National als „Verteidigerin französischer Werte“. Allmählich schwindet die salvatorische Einleitungsklausel „Ich bin wirklich kein Rassist, aber...“, mittels derer sich der Durchschnittbürger absicherte. Es ist nicht mehr nötig, sich zu rechtfertigen. Vorbei die Zeit, als es nicht ganz koscher war, Front National zu wählen. Robert Badinter, Justizminister Mitterrands, spricht von einer „Lepenisation der Köpfe“. Nach dem Gaullismus und dem Mitterrandismus hat also jetzt der Lepénismus das Licht der Welt erblickt. Jean-Marie Le Pen ist ins Pantheon der Substantive eingezogen, er hat sich im alltäglichen Vokabular eingenistet. Lepénismus – ein Wort wie alle anderen. Geschlecht: maskulin.

52,48 Prozent der Wähler von Vitrolles haben letzten Sonntag Front National gewählt. Erstmals erreichte die FN in einer französischen Stadt die absolute Mehrheit. Nach Toulon, Marignane und Orange ist das die vierte französische Stadt, die in die Hände der extremen Rechten fällt. Nicht länger ist es jetzt möglich, sich unter dem Vorwand zu beruhigen, es handele sich um ein marginales Phänomen, um eine Protestwahl, die wenig mit den wirklichen politischen Stimmungen im Land zu tun hat. Seit Le Pen bei den Präsidentschaftswahlen 1974 0,74 Prozent der Wählerstimmen erhielt, weist die Kurve der FN regelmäßig und solide nach oben. Heute sitzen die Lepénisten auf vier Bürgermeistersesseln, in den Regionalräten, in der Nationalversammlung und im Europaparlament. Bei der Präsidentschaftswahl von 1995 kam Le Pen auf 15,5 Prozent der Stimmen.

Ich kann wieder und wieder die Analysen lesen, die mir die Gründe für den Sieg der Front National in Vitrolles erklären. Es bleibt etwas Unerkanntes, etwas, das mir entgeht. Gewiß, eine neue Stadt von 39.000 Einwohnern, an den Ufern des Etang de Berre und zu Füßen der Autobahn A7 aus dem Boden gestampft – ein idealer Boden für die extreme Rechte. Ruinen einer verlorenen Identität, 22 Prozent Arbeitslosigkeit, Traurigkeit allerorten. Gewiß, der sozialistische Bürgermeister ist in eine häßliche Affäre mit falschen Rechnungen verwickelt, er ist eingeschlossen im Elfenbeinturm seines Rathauses, abgeschnitten von der Realität, diskreditiert. Von den Einwohnern abgelehnt, war er der schlechtestmögliche Kandidat der Gegner Le Pens. Gewiß, von den nahen Städten Marignane, Toulon und Orange ging eine epidemische Wirkung aus. Aber diese punktuellen Gründe erklären nicht alles.

Die kollektive Psyche einer Nation versehen zu wollen, ist eine gefährliche Angelegenheit. Alle Reden Le Pens und der Seinen kommen aus dem Geist der Defensive. Stets gilt es zu „kämpfen“, zu „erhalten“, zu „verteidigen“. Ganz so, als ob Frankreich, einer schweren Krise seiner Identität preisgegeben, dabei sei, sich aufzulösen. Dieses Frankreich, das sich stets seiner selbst so sicher war, so überzeugt, für alle Welt Beispiel zu sein für die demokratischen Tugenden und für die Menschenrechte, das Land der Aufklärung und der Revolution – ist es dabei, an sich selbst zu zweifeln?

Wenn man im Ausland lebt, kann man seinem eigenen Land leichter einen korrigierenden Spiegel vorhalten. Der Blick ist kritisch und distanziert. Sieben Jahre in Deutschland, sieben Jahre Beobachtung des politischen und zivilen Lebens haben mir geholfen, Frankreich auf andere Weise zu sehen und zu hören. Jean-Marie Le Pen glaubt, daß Vitrolle vielleicht eine „Schwalbe ist, die einen Frühling für Frankreich ankündigt“. Hätte diese blumige, anfeuernde Sprache, hätten diese eingebungsvollen Lyrismen in Deutschland irgendeine Glaubwürdigkeit? Wenn ich die Reden von Le Pen und seinen Jüngern höre, fühle ich mich an den lächerlichen Pathos des Vichy-Regimes erinnert. Bei den politischen Meetings von Le Pen dröhnt die Musik, Fahnen flattern, der Heros tritt auf, perfekt in Szene gesetzt: All das erinnert mich an andere Meetings, die in braune Farbe getaucht waren.

Ich kann ein Lachen nicht unterdrücken anläßlich des Personenkults, der unablässig in Frankreich praktiziert wird. Der Journalist Georges-Marc Benamou berichtet von der letzten Mahlzeit François Mitterrands mit einem Pathos und einer Art von Vasallentum, die in Deutschland undenkbar wären. Mit Liebe und Verehrung Helmut Kohl beschreiben, wie er den Kopf über seinen letzten Saumagen beugt? Diese Willfährigkeit, dieses Bedürfnis nach einem vergötterten und unberührbaren Chef ängstigt mich. Ich frage mich, ob diese Eigenschaften nicht mitverantwortlich sind für den Erfolg der Front National.

Vielleicht ist mein germanisierter Blick bereits deformiert. Aber ich denke, die extreme Rechte ist in Deutschland tabu. Abgesehen von ein paar kurzlebigen Feuerchen, hat die Partei Franz Schönhubers und haben andere Rechtsradikale sich nirgendwo dauerhaft festsetzen können. Es gibt keinen Abgeordneten der „Republikaner“ im Bundestag, niemals würde ein deutscher Politiker zum Bürgermeister gewählt werden, der ähnlich hemmungslos von „nationaler Renaissance“ und vom „Kampf gegen die allgemeine Vermischung“ spräche wie der Kandidat der FN in Vitrolles. Das Tabu bleibt ein Schutzwall, die Arbeit über die Vergangenheit eine Lektion der Gesundung.

Mir zitterten die Hände, als ich neulich beim Zeitungskauf in Schöneberg auf der Banderole der Wochenzeitschrift leveńement du jaudi las: „Soll man Angst vor den Deutschen haben?“ Das war am Tag, als die Ergebnisse der Wahl von Vitrolle feststanden. Wenigstens haben die Franzosen keine Angst, sich lächerlich zu machen.

Aus dem Französischen: C.S.