■ Berlinale-Anthropologie: Sehgewohnheiten
Das Goethe-Institut findet man in der Friedrichstraße – ein paar Schritte vor dem Checkpoint Charlie. Schade, dachte ich, ich hätte hier so gern begonnen: „Dann besuchte ich einen Ort, der erst wenige Jahre der Unwirklichkeit entstiegen ist ...“ Im Parterre ein griechisches Restaurant, in dem ich vor Jahren mal gern Gyros gegessen hätte (als ich noch Gyros aß).
Woran erkennt man, daß der Anlaß dieses Frühstücksempfangs die Berlinale ist? (Statt der Berufung des neuen Generalsekretärs, Goethes Geburtstag o.ä.) An den Film-Menschen, die zu identifizieren sind. Da ich – wie jeder – bei Empfängen stets einsam und unbeachtet herumstehe, beschäftigte ich mich also damit.
Dies ist Thomas Mitscherlich; daß das Haar weißgrau ist, war schon auf dem Foto zu sehen, das die Zeit vergangenes Jahr dem Würdigungsartikel beigab. Ich kenne ihn seit Urzeiten; 1963 habe ich vorübergehend in seiner Frankfurter Studentenbude genächtigt, als ich nach der Immatrikulation auf der Suche nach einer eigenen war.
Dann lebte er – zusammen mit der unglaubhaft schönen Angela Davis („zum Niederknien!“) – in einem der ersten deutschen Lofts; David Wittenberg hatte die aufgelassene Fabriketage aufgetan. Weil ich wenig später Frankfurt verließ und jeden Kontakt mit Thomas Mitscherlich verlor, kann ich jetzt nicht sagen, ich kenne ihn seit Urzeiten. Bei dem Frühstücksempfang des Goethe-Instituts ersparten wir jede Begrüßung.
Dies ist Rosa von Praunheim. Er demonstriert, daß auch den alternden Mann die Mode, Hemden über Hemden zu tragen, durchaus putzt. Und dies ist Reinhard Hauff, außerordentlich heiter und aufgeräumt sich eines geliehenen Handys bedienend – aus irgendwelchen Gründen hegte ich die sichere Erwartung, Reinhard Hauff zeige stets die Miene depressiver Verfinsterung (woraus Sie ersehen, daß ich auch zu Reinhard Hauff keinerlei persönlichen Kontakt unterhalte).
Reinhard Hauff trägt die schwarze Lederjacke so vieler Kulturschaffender, und wir wollen uns ein paar Gedanken machen, anhand welcher Merkmale wir wen wo einordnen, wenn nicht die Bekanntheit seines Gesichts den Namen und die soziale Stelle sogleich herbeiruft. Es verhält sich wohl so, daß bei den Herren Anzug, weißes Hemd und Schlips (es darf auch ein „Kombi-Anzug“ sein) den Angestellten oder gar Beamten der Kultur verrät, während der Schaffende modisch im Hemd überm Hemd oder in Lederjacke kommt.
Bei den Damen dagegen wird's sofort undurchsichtig: So würden Sie nie darauf kommen, daß diese ältere Handarbeitslehrerin höchst erfolgreich ein avantgardistisches Filmfestival leitet, seit langen Jahren.
Überhaupt lädt, zwischen den korrekt gekleideten Funktionären und den informell oder modisch gekleideten Schaffenden, eine schwer entzifferbare Mittelschicht zum Rätselraten ein. Männer in unauffälligen Sakkos, ebensolchen Hemden, ohne Schlipse, Damen in Kostümen oder Hosenanzügen, die man auf englisch nondescript nennt.
Schon letzten Sommer habe ich anläßlich einer Veranstaltung der Kinemathek entdeckt, daß die Leute, die das Kino Arsenal machen, die Kinemathek, ja die Berlinale, einer Kleiderordnung folgen, die ich Schullehrern zuordnen würde, alles nahe an Freizeit, also am liebsten Jeans oder baggy Cordhosen, nondescript Sakkos und Hemden, alles eher C&A, noch nicht einmal Peek&Cloppenburg; die Damen schminken sich so wenig wie Fräulein Barthels damals, meine Zeichenlehrerin (... muß doch mal die Kollegin Niroumand fragen, wie das bei den Organisatoren von Cannes oder Venedig ist ...).
Stets führt die anthropologische Forschung – statt einfach zur Enthüllung fremder Lebensverhältnisse – auf die Wahrnehmungs- und Darstellungsoperationen des Forschers zurück, was er, statt zu sehen, zu wissen vermeint.
So las ich an der ungewöhnlich hellen und glatten Stirnhaut dieses jungen Mannes ab, er sei Filmschauspieler, der im Rahmen seiner Berufsroutine den Teint zu hegen und zu pflegen hat, auch ein solcher Empfang wird nicht ohne ausgiebige Gesichtspflege besucht – dabei unterhielt sich der junge Mann, eifrig dem am Buffet gefüllten Teller zusprechend (meiner war auch nicht leer), mit seiner Freundin angelegentlich über Interna des Berliner Goethe-Instituts und gab sich damit als dessen Angestellter zu erkennen. Michael Rutschky
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen