Krieg gegen Verbrecherviren

Wie der HIV-infizierte US-Pathologe Mahlon Johnson mit Bomberpillen und Wunderglauben die Schlacht gewann und dennoch alles falsch macht, was man falsch machen kann  ■ Von Manfred Kriener

Es passierte im September 1992. Bei der Autopsie eines HIV-infizierten Leichnams gleiten die Finger ab und rutschen ins blutige Skalpell. Mahlon Johnson, ein junger Arzt und Neuropathologe aus Nashville, infiziert sich mit dem Aidsvirus. Nur drei von 1.000 Ärzten und Pflegern, die mit dem Blut von Aidskranken in Berührung kommen, stecken sich an, sagt die Statistik. Johnson ist einer von ihnen. Aber nicht irgendeiner. Seine Krankheit verläuft von Anbeginn in außergewöhnlichen Bahnen. Er gehört zu den ersten Menschen, die es schaffen, das Virus abzuschütteln und ihr Immunsystem zu normalisieren. Auf 300 Seiten hat Johnson seine Geschichte aufgeschrieben. Im Berlin Verlag ist es soeben erschienen.

So spannend dieses Dokument einer spektakulären Genesung daherkommt, es bleibt doch ein Buch mit sehr zwiespältigen Eindrücken. Es schwankt zwischen packenden, zu Herzen gehenden Schilderungen, die Ängste und Panikgefühle der Kranken erfahrbar machen, und seichten Ausflügen ins Milieu des Doktor-Groschenromans. Vieles bleibt oberflächlich, unreflektiert. Ein Mann läßt sich als Sieger im Kampf gegen Aids feiern, der so ziemlich alles falsch macht, was man in der Auseinandersetzung mit dieser Krankheit falsch machen kann.

Am Anfang steht, wie bei den meisten Infizierten, das positive Testergebnis. Doch Johnson veranstaltet schon kurze Zeit nach seinem Laborunfall eine wahre Testorgie mit immer neuen Anläufen. Negativ, positiv, negativ, positiv. Von heillosen Panikattacken getrieben, rennt er von einer Blutentnahme zur nächsten.

Noch schlimmer führt sich der Arzt bei der Zählung seiner CD-4- Immunzellen auf, die als wichtiger Indikator für das Fortschreiten der Krankheit gelten. Er wiederholt die Bestimmung seiner Helferzellen in manischem Tempo. Und die Zahlen werden zum Scharfrichter, zu Urteilen über Leben und Tod stilisiert. Sind die Helferzellen angestiegen, „blinken die Zahlen wie Weihnachtslichter“. Sind sie gesunken, starrt er demoralisiert auf das Ergebnis.

Eine immunologische Schiffschaukelfahrt. Zugleich offenbart der Mediziner ein erschreckend naives Weltbild. Krankheit ist für ihn nicht der unvermeidbare, feste Bestandteil des Lebens, sondern „ein Verbrechen“. Verbrecher müssen bekämpft werden, und so blüht denn die Kriegsmetaphorik in schillernden Farben: Viren werden zu „feindlichen Raumschiffen“, die immer neue „Stoßtrupps“ aussenden. Johnson selbst ist der „auf dem Schlachtfeld Verwundete“. Medikamente sind „Bomben“, die täglich abgeworfen werden.

Schon wenige Wochen nach der Infektion hält der Neuropathologe seine Hilflosigkeit nicht mehr aus. Er muß irgend etwas tun, endlich mit einer Therapie beginnen. Also schluckt er viel zu früh das antivirale Mittel AZT, drangsaliert Forschungslabors der Pharmaindustrie, macht einen Versuch mit dem Medikament „Delavirdin“ und landet schließlich bei Interleukin 2, das die Abwehrzellen des Immunsystems stimulieren soll. Jedes Medikament wird mystifiziert, als Rettung gepriesen. Die Pillen, schreibt er begeistert, sind „wertvoller als echte Diamanten“.

Nach dem Einsatz von Interleukin steigt Johnsons Helferzellen- Zahl plötzlich sprunghaft an, das Virus verschwindet unter die Nachweisgrenze. Das Wunder ist geschehen. „Zum allerersten Mal wagte ich mir vorzustellen, daß ich vielleicht – nur vielleicht – eine Art Durchbruch geschafft hatte.“ Die medizinische Schlacht um die Infektion verwebt der Autor mit einer von jeglicher Sexualität gereinigten Liebesgeschichte. Johnson, die „schrullige Laborratte“ (Selbstdarstellung), die lange in einem Wohnwagen lebte und Tag und Nacht getreu der Lebensphilosophie seiner Mama immer nur arbeitete – ihn packt die Leidenschaft. Das Buch zeigt sehr schön, wie radikal sich Menschen mit dem Einbruch von HIV verändern, wie weitgehend ihre Lebensentwürfe korrigiert werden. Auch der Alltag der Infizierten scheint auf. Schon der Zahnarztbesuch kann zur Katastrophe werden, wenn der Dentist dreifach vermummt und mit mehreren Lagen Gummihandschuhen übereinander dem Patienten schlotternd vor Angst gegenübertritt.

Doch literarische Qualität erreicht der Autor nur in Ausnahmefällen. Eher erinnert er an eine Art HIV-Konsalik. Daß der Spiegel die Geschichte als Vorabdruck brachte, ist denn auch eher der vermeintlichen medizinischen Sensation geschuldet und dem nekrophilen Voyeurismus, den der Autor immer wieder bedient. Da verwandelt sich die Lunge in einen blutigen Beutel, da wird der Kopf eines Toten ausgelöst wie das Filetstück vom Zander, und sein Hirn wird zu „Hüttenkäse“. Pathologen, wir ahnen es, sind zuweilen eine seltsame Spezies.

Daß in Johnsons Aidstagebuch auch kräftig amerikanische Gesundheitsideologie zwischen die Buchdeckel gepreßt wurde, ist unüberlesbar. Die Frohbotschaft der „Healthisten“, der Jogger und fanatischen Nichtraucher wird auf Aids übertragen: Du mußt dein Schicksal selbst in die Hand nehmen, du allein kannst das Virus besiegen, es liegt nur an dir. Sei stark, kämpfe, verjage das Virus mit den großartigen Produkten des pharmazeutisch-wissenschaftlichen Thinktanks. Kaum ist das Buch erschienen, ist es auch schon überholt. Was Johnson noch als medizinische Sensation schildert, gehört heute zum Normalbild der Krankheit Aids. Mit den neuen antiviralen Medikamenten kann das Virus heute bei vielen Infizierten unter die Nachweisgrenze zurückgedrängt werden – ganz ohne Interleukin und Wunderglauben.

Mahlon Johnson (mit Joseph Olshan): „Arbeit an einem Wunder“. Aus dem Amerikanischen von Barbara Schaden, Berlin Verlag 1997, 304 Seiten, 36 DM