piwik no script img

Die Leidenschaft der Erinnerung

Eine Frau erbt von ihrem toten Geliebten ein Computerspiel, mit dem sie die Schlacht von Okinawa nachspielen soll: Chris Marker verweist mit seinem Film „Level Five“ auf den menschlichen Ursprung der Technologie  ■ Von Laurent Roth

„Wer sich erinnern will, muß sich dem Vergessen überlassen, auf die Gefahr hin, daß das Vergessen absolut und die Erinnerung dann ein schöner Zufall wird.“ Dieser Satz von Maurice Blanchot ließe sich Chris Markers neuem Film „Level Five“ voranstellen. Der Handlungsrahmen des Films ist verblüffend einfach: Eine Frau namens Laura (Cathrine Belkhodja) erbt von dem Erzähler des Films (Chris Marker) einen Computer. Sie soll darauf ein Computerspiel zu Ende spielen, das die Schlacht um Okinawa am Ende des Zweiten Weltkriegs zum Gegenstand hat. Anders als die üblichen Strategiespiele, bei denen der Gang der Geschichte virtuell verändert wird, besteht die Idee dieses Spiels darin, die furchtbaren Ereignisse in ihrem tatsächlichen Verlauf zu reproduzieren. Laura sammelt immer weitere Teilstücke der Tragödie in Form von Bildern und Zeugenaussagen, bis diese mit ihrem eigenen Leben in Wechselwirkung treten. Heimgesucht von den Toten, verschwindet Laura, während der abwesende Erzähler an die Orte seiner Untersuchung zurückkehrt.

Die Anwesenheit einer Frau in Markers Film gewinnt hier die Bedeutung einer durchaus ironischen Überschreitung von Genregrenzen: „Ein Dokumentarfilm ist ein Film ohne Frau. Kommt eine Frau vor, ist es ein halbdokumentarischer Film.“ Mit dem Zitat dieses salomonischen Urteils über das Verhältnis von Dokumentation und Fiktion, das Harry Cohn, der legendäre Chef von Columbia, geäußert haben soll, unterstreicht Chris Marker das Einbrechen einer ganz neuen Dimension in sein filmisches Universum. Die Annäherung an Frauen geschah bisher bei Chris Marker über ihr Bild oder ihre Stimme, niemals über ihre inszenierte Anwesenheit. Daß er diesmal unerwartet seine Muse Egeria in Cathrine Belkhodja Gestalt annehmen läßt, ist Ausdruck einer impliziten Kritik des Autors an den Mythen und Projektionen unserer Technologiegesellschaft, die im kybernetischen Zeitalter das Ende der Geschlechterdifferenz herbeiphantasieren, und an dem Homo cyber sapiens, der dem Nahen das Ferne, dem Abenteuer des Blickkontakts den Rausch des „virtuellen Koitus“ vorzieht.

Entsprechend ist das erste, womit uns Chris Marker konfrontiert, Lauras Kamerablick: Während sie uns zu Zeugen ihrer fortschreitenden Untersuchung über die Schlacht von Okinawa macht, lenkt sie unsere Aufmerksamkeit zwangsläufig auf ihre eigene weibliche Schönheit, in der sich alle Faszinationskraft der Leinwand bündelt. Die Erotik der Situation ist minimal, verleiht ihr aber eine undefinierbare Aura, inszeniert ein verführerisches Spiel mit dem Zuschauer, das um so reizvoller ist, als sich Cathrine Belkhodja hier an den Mann wendet, den sie liebt – an einen Toten.

Hier nun kommt Chris Marker ins Spiel: Durch seine Stimme und durch die 1985 in Japan gedrehten Aufnahmen, darunter eine lange Reportage aus Okinawa selbst, lenkt er gewissermaßen Lauras Untersuchung. Das asymmetrische Schicksal der Geschlechter könnte deutlicher nicht sein: Als wäre es für ein Erinnern notwendig, daß der eine gestorben ist, während der andere noch lebt. Tatsächlich wird hier ein Dialog über das Grab hinweg geführt, bei dem jeder den Verlust des anderen erlebt. Diese für Markers Filme typische, rein innerliche Präsenz der Personen erhält eine subtile Doppelbödigkeit durch Lauras Bezugnahme auf den mit ihr gleichnamigen Film „Laura“ (1944) von Otto Preminger, den sie mit dem Erzähler auf einer gemeinsamen Reise in Okinawa gesehen hat. Die Anspielung, die aus der Figur des Ineinandergreifens hervorgeht, ist mehr als nur ein Augenzwinkern in Richtung des kinematophilen Zuschauers. „Laura“ ist die zur mythischen Person überhöhte Erinnerung.

Wie das Kriegsbild den Tod bestellt

Das Verdrängte in „Level Five“ ist ein Ereignis der Geschichte, das bis heute immer noch wiederkehrt: Am 15. Mai 1945 landeten amerikanische marines an den Küsten des Archipels Okinawa, ohne zu ahnen, daß sie zum Werkzeug eines Schreckens wurden, der fortan die westliche Menschheit beherrschen sollte. Okinawa bildete den Schauplatz eines unvorstellbaren Massakers, bei dem 150.000 Zivilisten starben, von denen die meisten durch die japanische Armee in den Selbstmord getrieben wurden, und war der entscheidende Auslöser für den Entschluß Washingtons, die Atombombe einzusetzen. Die nach dem Krieg energisch durchgeführte Aufklärung (vor dem internationalen Tribunal von 1949 standen nahezu 200.000 Japaner, 5.000 Kriegsverbrecher wurden verurteilt, 900 hingerichtet) hat nicht verhindern können, daß die Sieger die Geschichte auf ihre Weise geschrieben und die Besiegten dieses schmachvolle Kapitel beharrlich verschwiegen haben.

Das grundsätzliche Anliegen von „Level Five“ ist es, zu zeigen, daß und wie das Verdrängte der Geschichte und das Verdrängte in den Bildern der Geschichte in einem bestimmten Verhältnis zueinander stehen, und daß der Film hier wiederherstellt, was die Welt der Information schon allein durch ihre Geschwindigkeit unablässig zum Verschwinden bringt. Seit „Le fond de l'air est rouge“ (Rot liegt in der Luft, 1977) hat diese kritische Funktion des Films gegenüber der sich abzeichnenden „kollektiven Erinnerungslosigkeit“ in einer Polyphonie der Stimmen ihre Form gefunden. Sie kehrt den Sinn der Bilder um. Sie macht gleichzeitig deren Kehrseite sichtbar und gibt sie an ihre Produzenten zurück, an die Kameramänner und Auftraggeber.

„Level Five“ enthält mehrere Beispiele dafür, wie das Kriegsbild den Tod bestellt (sofern es nicht umgekehrt geschieht): Japanische Wochenschauaufnahmen von Frauen aus Okinawa, die sich von der Steilküste stürzen. Eine von ihnen zögert, sieht dann, daß sie gefilmt wird, und springt; ein amerikanischer Sergeant wird als Kriegsheld dekoriert, weil er in einer inszenierten Aufnahme das Sternenbanner auf dem Boden Okinawas gepflanzt hatte. Man verbot ihm, den Betrug aufzudecken, er wurde verrückt und beging Selbstmord; schließlich jener Mann, der als brennende Fackel in allen Montagen über den Krieg im Pazifik vorkommt. Laura zeigt uns in einem nicht verwendeten Schnittrest dieser Aufnahme, daß der Tote wieder aufsteht und ein Leben außerhalb des Bildes dem Opfertod vorzieht. Wenn die Bilder unsere Erinnerungen sind, sind sie auch an der Konstituierung unserer Legenden beteiligt, und man sieht, mit welchem Preis das Recht auf ein schönes Bild bezahlt wird: Man muß sterben oder sich von seiner Unschuld verabschieden.

Angesichts dieses ikonologischen Determinismus („Wie erinnern sich die, die nicht filmen?“ fragte Chris Marker alias Sandor Krasna schon in „Sans Soleil“) scheint es nur eine Lösung zu geben, um die Geschichte zu verändern: Man muß ihre Bilder verändern. Dazu greift Marker immer häufiger auf Zeugen zurück. Konfrontiert mit der gespenstischen oder traumatischen Macht der Bilder steuert die echte, unmittelbare Rede ihre Wiederlegung der Menschlichkeit bei. In „Level Five“ ist es die bestürzende Aussage des Pastors Shigeaki Kinjo, der nüchtern erzählt, wie er – als damals sechzehnjähriger Reservist der japanischen Armee – und andere Leute aus seinem Dorf ihre Väter, Mütter und Geschwister töteten, damit – wie es von der fanatischen Militärführung gefordert wurde – die Angehörigen einer „überlegenen Rasse“ nicht den Amerikanern in die Hände fielen. Sein Schicksal teilten Zehntausende Einwohner der Insel Okinawa, die dem gleichen Wahnsinn verfielen. Shigeaki Kinjo, der inzwischen zum Christentum konvertiert ist, bietet mit seinem Geständnis dem Schweigen der japanischen Gesellschaft die Stirn: „Ich trage die Last meiner eigenen Erinnerung, damit sich Japan der seinen stellt.“

Die Bedeutung von „Level Five“ liegt zweifellos darin, daß der Film zahlreiche Ansätze zu einer Antwort auf die quälende Frage enthält: Können die modernen Kommunikationstechnologien eine neue Form des audiovisuellen Schaffens hervorbringen? Kann die radikale Verwandlung des einst analogen Trägermaterials der Kinobilder in ein digitales und virtuelles Setting die imaginäre Kraft des Films erneuern?

Die Annäherung des Films an eine Beantwortung der ersten Frage besteht darin, sie anders zu stellen und den technologischen Aspekt zu relativieren: Unmöglich könnte der Film auf den symbolischen und politischen Menschen, der wir sind, verzichten. In dem Dreiecksverhältnis zwischen einer Frau, dem Tod und einem Computer wird von Spielbeginn an die Technologie nicht um ihrer selbst Willen vorgeführt und hochgejubelt. Vielmehr integriert sie „Level Five“ in einen anthropologischen Sinnhorizont, der durch die Liebe einer Frau und die Erinnerung an die Toten ohne Begräbnis vorgegeben ist. Umgekehrt läßt die Unabgeschlossenheit des Programms und das Unzureichende technologischer Indifferenz den Mangel des modernen Menschen an Wesentlichkeit hervortreten. Was, wenn unsere mangelnde Phantasie in der Liebe wie in sozialen Beziehungen auf einen Mangel an Erinnerung zurückginge?

„Pick up your mask“ fordert der Computer

Zum anderen nimmt Chris Marker mit einem Gespür für den thanatologischen Charakter des Internet gegenüber der Welt der Kybernetik eine archaische Haltung ein: Er appelliert an die einschüchternde Kraft der Maske, um die Enthüllung des Schreckens wie den Schlaf des Vergessens zu beschwören. „Pick up your mask!“ fordert der Computer Laura auf, bevor sie sich ins Netz hineinbegibt. Und Laura erfindet sich auf dem Bildschirm lauter virtuelle Masken, um dem Jenseits entgegentreten zu können.

Dieser Trick ermöglicht es Chris Marker, sie als einen weiblichen Charon durch den Film führen zu lassen: Wenn Laura die Geständnisse derer sammelt, die als Zeugen des Massakers von Okinawa in Nachbarschaft mit dem Tod leben, sich aber auch als virtuelle Gesprächspartner über Internet mit ihr unterhalten, ist es ihre eigene Trauer- und Verlusterfahrung, die eine Brücke zum Zuschauer schlägt: „Da ich mir vorstelle, daß es dem Zuschauer leichter fällt, sich in Lauras Leiden wiederzuerkennen als in dem eines Mannes, der seine ganze Familie umgebracht hat, setze ich auf dieses Wiedererkennen, um ihm Zugang zu der Ebene des Mitleids zu verschaffen, die sie selbst dadurch erreicht, daß sie sich in die Tragödie von Okinawa vertieft“, äußerte Chris Marker in einem Interview. Seine Absicht geht auf: Laura erschüttert um so mehr, als ein Computer nicht weinen kann.

Dieses „Level 5“ der Spielbeherrschung, auf das der Titel des Films verweist, ist außer durch den Tod für uns unerreichbar. Mit der Verspottung des im kybernetischen Imaginären wirksamen Prometheusmythos verweist uns Chris Marker zurück auf den menschlichen Ursprung der Technologie. Man könnte auf sie einen Kommentar aus seinem ersten Film von vor 45 Jahre anwenden: „Die Negerstatue ist nicht der Gott: sie ist das Gebet.“ In „Level Five“ wird der Computer vom Sockel gestürzt: Auch er ist nicht „der Gott“, möglicherweise aber „das Gebet“, wenn Menschen ihn, wie in diesem Film, zu einem Medium der Erinnerung erfinden, das die Grabesstille überbrückt.

Übersetzung: Sigrid Vagt und Christian Hansen

„Level five“. F 1996, 106 Min., Regie: Chris Marker. Mit Cathrine Belkhodja, Nagisa Oshima u.a.

Heute: 23.30 Uhr Atelier am Zoo, dtsch. Version; 23.30 Uhr Filmpalast, engl. Version; 23.30 Uhr Astor, franz. Version

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen