Die vergessenen Fußgänger

Trau keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast – vor allem keiner Verkehrsstatistik. Verkehrserhebungen gewichten den Autoverkehr systematisch zu stark, weil ihm stets eine zentrale Bedeutung beigemessen wurde  ■ Von Andreas Knie

Familie Yilmaz, seit 1978 in Deutschland, Melanie und Sophia, 4 und 5 Jahre und Herbert Spieker, Handlungsreisender in Sachen Wasch- und Reinigungsmittel haben eins gemeinsam. Sie können sich im Verkehr soviel bewegen wie sie wollen, es zählt nicht! Ob sie Busse oder Bahnen, das Automobil, das Fahrrad nutzen oder zu Fuß gehen, es taucht in den vom Bundesministerium für Verkehr in Auftrag gegebenen Erhebungen des Verkehrsverhaltens (KONTIV) nicht auf.

Urlaubs-, Geschäfts- und Dienstreisen, Kinder unter sechs Jahren sowie das gesamte tägliche Verkehrsverhalten von Personen ohne deutschen Paß werden hier nicht erfaßt und nicht ausgewertet.

Dies bleibt für die Verkehrspolitik nicht folgenlos. Die KONTIV- Erhebungen, die 1976, 1982 und 1989 insgesamt dreimal für Westdeutschland organisiert wurden, gelten als das Rückgrat der Verkehrsforschung. Auf der Basis der ermittelten Daten über die Anzahl der täglichen Wege, die Wegezwecke, die Wegelängen und die dabei genutzten Verkehrsmittel werden wichtige Analysen über das Mobilitäts- und Verkehrsverhalten im Lande erarbeitet, die für die Verkehrswegeplanungen von nachhaltiger Bedeutung sind.

Diese mit nahezu offiziellen Weihen versehenen Ergebnisse zeigen allerdings eine erhebliche Schieflage. Der Grund für die äußerst selektive Sichtweise findet sich in der Geschichte der Verkehrserhebungen. Diese sind nämlich in erster Linie als Messung des motorisierten Verkehrsverhaltens ausgelegt gewesen, weil dieser Verkehrsform eine „zentrale Bedeutung“ beigemessen wurde, führe sie doch, so der Gießener Verkehrswissenschaftler Gerd Aberle, „zu einer Vielzahl von positiven und negativen einzelwirtschaftlichen und gesamtwirtschaftlichen Wirkungen“.

Wenn sich eine Person von A nach B bewegt, legt sie sogenannte Personenkilometer zurück – eine zentrale Maßzahl für die Verkehrsleistung. Je mehr Personen längere Wege zurücklegen, desto mehr ausgewiesene Verkehrsleistungen ergeben sich. Bei einer solchen Perspektive liegt es klar auf der Hand, daß dem motorisierten Verkehr, mit dem weite Distanzen zurückgelegt werden, natürlich eine größere Aufmerksamkeit zuteil wird. Anfang der 70er Jahre, bei der Planung der ersten umfassenden Erhebung, dachte man im Verkehrsministerium zunächst nicht daran, Fußwege oder mit dem Fahrrad zurückgelegte Wege überhaupt zu zählen. „Es war nur schwer durchzusetzen, daß auch der nichtmotorisierte Verkehr erfaßt wurde“, sagt der Verkehrsexperte Werner Brög zum Geist der KONTIV-Gründerjahre.

Die einseitige Orientierung an den motorisierten Verkehrsleistungen hat bis heute ihre Spuren hinterlassen. Wenn alle statistisch erfaßten Verkehrsleistungen 1995 zusammengenommen werden, dann entfallen davon knapp 82 Prozent auf den motorisierten Individualverkehr – das Automobil. Der Rest verteilt sich auf Eisenbahn, Luftverkehr und den öffentlichen Personennahverkehr. Fußgänger erbringen laut dem vom Verkehrsministerium herausgegebenen Standardwerk Verkehr in Zahlen leider keine nennenswerten Verkehrsleistungen.

Auf einer so sortierten Datenbasis kann BMW-Umweltexperte Detlef Frank dann süffisant feststellen, daß „Mobilität in erster Linie Automobilität ist“. Die Vertreter der Autoindustrie packen darüber hinaus locker die neuesten Zulassungszahlen auf den Argumentationstisch. Allein der Pkw-Bestand ist 1996 auf 42 Millionen Fahrzeuge gestiegen. Da könnte die Bevölkerung des vereinten Deutschlands in der Fahrzeugflotte Platz nehmen, ohne daß eine Person auf die Rücksitze müßte.

Obwohl es mit Blick auf die Blechlawinen der Städte kaum zu glauben ist: Die überragende Bedeutung des Automobils ist in erster Linie eine statistisch konstruierte Wirklichkeit. Zur Zeit sind immer noch 27 Prozent aller Haushalte in Deutschland autolos. Ob freiwillig oder unfreiwillig, kann zwar nicht beantwortet werden. In absoluten Zahlen bedeutet dies aber, daß mehr als 25 Millionen Menschen in Deutschland über keinen unmittelbaren Pkw-Zugriff verfügen. Rein statistisch gesehen.

Die Bedeutung des Pkws relativiert sich weiter, wenn man beispielsweise statt der Personenkilometer die Zahl der täglichen Wege untersucht. Selbst die Statistiken des Verkehrsministeriums zeigen, daß der Pkw lediglich an knapp der Hälfte der täglichen Wege beteiligt ist, während 28 Prozent als reine Fußwege zurückgelegt werden.

Unabhängige Experten glauben, daß selbst dieser beachtliche Anteil der Fußwege noch viel zu gering angesetzt ist. Denn gemessen wird bis heute vorwiegend der Verkehr, der mittels motorischer Hilfsmittel durchgeführt wird. „Fahrten oder Wege, bei denen mehrere Verkehrsmittel benutzt werden“, heißt es in Verkehr in Zahlen, „wurden jeder Verkehrsart zugerechnet, also mehrfach gezählt, mit einer Ausnahme: Fußwege, die nur Zubringerfunktion zu anderen Verkehrsmitteln haben, wurden nicht berücksichtigt“. Im Klartext: Geht eine Person 15 Minuten zu einer Haltestelle, fährt dann beispielsweise einige Minuten mit der S-Bahn und läßt sich die letzten Kilometer noch im Auto mitnehmen, dann werden S-Bahn und Automitnahme gezählt, der Fußweg jedoch bleibt unberücksichtigt. Er kommt, statistisch gesehen, gar nicht vor. Bei den oben erwähnten KONTIV-Erhebungen wurden reine Fußwege auch nur dann gezählt, wenn sie mindestens fünf Minuten gedauert haben.

Der Wiener Verkehrsforscher Hermann Knoflacher hat es für Wien einmal genau ermittelt. Wenn alle Fußwege, auch die unter fünf Minuten, alleine oder in Kombination mit anderen Verkehrsmitteln unternommen, gezählt werden, dann zeigt sich eine ganz andere Wirklichkeit. So berechnet, ergibt sich ein Anteil der Fußwege von über 71 Prozent an den täglichen Wegen oder Teilwegen.

In anderen Städten sieht dies kaum anders aus. Verkehrliche Wirklichkeiten sind das Ergebnis statistischer Konstruktionen. Würden einmal der Auto-Geist aus der Verkehrserhebung vertrieben und unsere Bewegungsformen in ihrer Komplexität erfaßt, ergäbe sich ein anderes Bild verkehrlicher Wahrheiten. Bis es soweit ist, werden die Wünsche und Bedürfnisse der Fußgänger nicht ernst genommen, weil es sie – statistisch gesehen – kaum gibt.