Vermummte Ureinwohner zu Pferde

■ Anflüge von Klassenhaß, Ansichten menschenleerer Städte oder magischer Realismus: Der Verleih „Riofilme“ zeigt brasilianische Produktionen im Forum

Wenn ein Filmfest einen Blick auf fremde Kinematographien wirft, schauen die Filme zurück und geben Auskunft. Wer zusieht, wird belohnt – unabhängig davon, ob die Filme gut oder schlecht sind. Auskunft gibt diesmal Brasilien: Acht aktuelle Produktionen stehen auf dem Forum-Programm.

1990 legte der damalige Präsident Fernando Collor de Mello die einheimische Filmproduktion lahm, indem er die Fördergelder strich. Sein Nachfolger Cardoso hingegen erklärte staatliche Filmförderung gleich zur nationalen Aufgabe. Die Früchte der Anstrengungen sind schon dem Logo des Verleihs „Riofilme“ zu entnehmen. „Rio, cidade meraviglioso“, feiert der Verleih sich mit inbrünstigem Gesang.

In „Como Nascem os Anjos“ („Wie Engel geboren werden“) von Murilo Salles geraten drei Favelanos, die 13jährige Branquinha, ihr etwa gleichaltriger Bruder Japa und der grenzdebile Ganove Maguila, durch eine Kette dummer Zufälle ins Villenviertel der Stadt. Maguila muß pinkeln und bittet einen amerikanischen Upperclass- Rechtsanwalt, der gerade seine Garagentür geöffnet hat, mal das Klo benutzen zu dürfen. Der Villenbesitzer wittert einen Überfall, die Jugendlichen rücken dem Anwalt auf die Pelle, als plötzlich der Chauffeur mit gezogener Waffe auftaucht. Maguila zieht seine, wird angeschossen. Und nun? Die drei aus der Unterstadt verschanzen sich im Haus. Unmerklich, ohne Vorsatz und uneinholbar spitzt sich die Lage zur Geiselnahme zu...

Was an „Como Nascem os Anjos“ interessant ist: das labile Gleichgewicht, in dem sich die dreiste Branquinha und der vorwitzige Japa bewegen – mal kindlich den Reichtum im Haus des Anwalts bewundernd, mal in diffusen Anflügen von Klassenhaß hart ihre Interessen durchsetzend. Welche das sind, wissen sie auch nicht. Sie sind keine Verbrecher, sagen sie immer wieder, mit der Waffe in der Hand.

So was muß tragisch enden. Nicht wegen der Brutalität der Jugendlichen, nicht wegen der Polizei, die schon die Erstürmung der Villa plant. Nur weil die Geiseln und Geiselnehmer – eine Konfrontation der Ersten mit der Dritten Welt – stets aneinander vorbeireden, obwohl dauernd gequatscht wird. Ebenso wie Branquinha und Japa das untereinander tun. Der Showdown ist konsequent. Weil ihnen jeder Fluchtversuch versperrt scheint, richtet sich der Haß der beiden Jugendlichen aus den Favelas auf sich selbst, und der Film wird zur Parabel auf die unüberwindbare Kommunikationshürde zwischen zwei Welten.

Weniger gelungen, weil allzu deutlich schwarzweiß gepinselt: „Doces Poderes“ („Süße Mächte“) von Lúcia Murat. Thema: Wahlkampf in Brasilia. Bia, eine hochanständige Fernsehjournalistin, hat eine leitende Position bei einem bedeutenden Sender, wo sie feststellt, doch keine kritischen Beiträge über die alle popularistischen Register ziehenden Wahlkampfkandidaten senden zu können. Bia kündigt sofort, offenbart die Story einer Zeitung und entschwindet in die Kälte Brasilias. Untadelige Haltung hat der Film, das weiß man schon nach den ersten Einstellungen: menschenleere Stadtansichten, schlechtrasierte Dunkelmänner mit Handy und Teleobjektiven und eine attraktive Frau, den Tränen nahe.

Neben den ausufernden Metropolen gibt's viel Land in Brasilien. Und neue Filme, die dort spielen. Etwa in „Sertao der Erinnerungen“ von José Araújo, einer stimmigen, gewissermaßen dem Rhythmus der Landschaft angepaßten Erzählung in Schwarzweiß. Erzählt wird die Landschaft selbst, der Sertao, jene große Dürrezone, die schon Schauplatz des brasilianischen Cinema Novo der 60er Jahre war. Der, den sie nur „Drachen“ nennen, der Großgrundbesitzer, gräbt den armen Bauern das Wasser ab, buchstäblich. Weil die Armut groß ist, ist es auch der Glaube. Vermummte Ureinwohner tauchen zu Pferde auf, beim Pflügen wirbeln die Bauern neben der Erde auch Mythen auf. Stilsicher setzt Araújo die Tradition des magischen Realismus brasilianischer Prägung fort.

Wer will solche Geschichten sehen in Brasilien? „Brasilianische Filme, die von der Standarddramaturgie des nordamerikanischen Kinos abweichen, kämpfen mit der gleichen Akzeptanz wie deutsche Autorenfilme auch“, sagte José Carlos Avellar vom Verleih „Riofilme“ zum Filmecho. Der Sertao wird es weiterhin schwer haben. Alexander Musik

„Carlota Joaquina, Princesa do Brasil“. 21.2.: 11 Uhr (Delphi), 23.2.: 18.30 Uhr (Kino 7 im Zoopalast); „O Cego que Gritava Luz“. Heute: 11 Uhr (Delphi), 18.30 Uhr (Kino 7 im Zoopalast); „Como Nascem os Anjos“, 22.2.: 15 Uhr (Babylon)