Filmfeste Biographien
: Denkmale bei Vollmond

■ Sichtbar werden: Reisende und ihre Locations

Im Laufe eines Festivals steigt der Appetit auf Wunder, und von Ernie Gehrs „For Daniel“, einem Farbstummfilm von 72 Minuten, der ein Kind namens Daniel von der Geburt bis ins sechste Lebensjahr begleitet, hatte ich so etwas erwartet. Allein weil das Vorhaben so dreist klang. Aber die Kamera klebt an dem Kind, hält die Mutter im Hintergrund; die Kleidung des kleinen Jungen wird gepunktet, gestreift, man lernt laufen, etc. Weder wird die merkwürdige Tatsache, daß die Welt eine fertige ist und das Neugeborene sie nicht verstehen kann, in irgendeiner Form erforscht, noch scheint sich der Filmemacher irgend etwas daraus zu machen, daß es schon sehr viele Bilder von Kindern gibt, die projektiv im Körper Daniels aufgehen. Schicksal des Vater-Filmers, mehr nicht.

Das dokumentarische Genre ist immer in Gefahr, den Gegenstand preiszugeben, indem es sich in ihn verliebt. „Da habt ihr mein Leben – Marieluise, Kind von Golzow“ nennen Barbara und Winfried Junge ihre jüngste Bearbeitung und Ergänzung des Materials über einige Schulkinder eines Dorfs in der DDR. Die Junges haben sich mit den Titeln immer ein bißchen angebiedert; „nur eine Geschichte erzählt“, aber das war natürlich Camouflage für eine dereinst eher gewagte Sozialgeschichte der DDR. Marieluise – jetzt an die 40 Jahre alt und umgezogen nach Köln – dient als Lupe, mit der die Szenen aus Golzow und Frankfurt (Oder) vergrößert werden. Dennoch ergibt sich eine Inkongruenz in den Absichten. Die Filmemacher Junge brauchen Marieluise, um ihr Material zu reinterpretieren. Das Material ist die DDR. Aber Marieluise braucht die DDR nicht. Und wir „haben“ auch nicht ihr Leben.

Spike Lees „Get on the Bus“ ist an das Genre des Dokumentarfilms fiktiv angelehnt, indem der Film den Querschnitt durch eine Gruppe zeigt: ein halber Bus voll mit Männern auf dem Weg zur Großkundgebung nach Washington, D.C. Die Reisenden sind sich Interviewer und Interviewte. Dabei wird sichtbar, daß die Suche nach den Wurzeln ein Wurzelwerk der Ideologien hervorgebracht hat. Die Gruppe stellt also die black community in der Nußschale dar, eine explosive Fracht. Das ideologische Bühnenbild, einmal errichtet, gibt dann den Raum ab, in den die retrospektiven Lebensgeschichten der einzelnen gestellt sind wie wilde Denkmale bei Vollmond. Als spiritueller Leader der Gruppe – die in D.C. zu spät ankommt, um am Millionen-Männer-Marsch Farrakhans teilzunehmen – erweist sich der Busfahrer, glücklicher Vater einer Familie. Er agiert aber nicht als role model (nur ein oder zwei Leute im Bus kennen überhaupt seine Geschichte), sondern aus dem Glück heraus, das er in sich trägt.

Auch Johan van der Keukens „Amsterdam, Global Village“ gehört zu den Filmen von Linken, die subtil das Bild der Familie zurechtrücken. Die wichtigsten Protagonisten des Films sind Männer aus anderen Kontinenten, die in Holland Fuß gefaßt haben und ihre soziale Rolle quasi neu erfinden müssen. Van der Keuken ist ein Meister der Kamera, der Improvisation, der Montage, aber vor allem in der Interpretation von Locations. Er deutet soziale Felder aus: die Hingabe der Zuschauer in einem Boxkampf; die forcierte Intimität eines fotografischen Studios; der mirakulöse psychologische Tausch von diesseits nach jenseits des Tresens und andersherum. Der Film ist – bei einer Konzentration, die etwas von Zen hat – mit dem Stadtraum verwoben.

Was man tatsächlich über die einzelnen Figuren erfährt, ist im buchstäblichen Sinn schnell erzählt; aber der Film dauert zu Recht vier Stunden, weil er das Milieu so akribisch beschreibt, daß es als Organisches zu leuchten beginnt. Diese Kunst des Filmemachens hat etwas von der Gleichzeitigkeit mittelalterlicher Altarmalerei. Man kennt die Geschichten gut, die man staunend darin wiederfindet. Ulf Erdmann Ziegler