Politiker an der Schmierfront

Seit einem Dreivierteljahr führt der Senat mit seinem „Aktionsplan Sauberes Berlin“ weniger eine Debatte um Schmutz als eine Kampagne gegen die Jugend  ■ Von Bodo Morshäuser

Im vergangenen August seufzten die Politiker über Berlins „Erscheinungsbild“. Mit freundlicher Unterstützung einiger Zeitungen ist aus den Seufzern ein Senatsbeschluß geworden.

Nach einem monatelangen Dauergeräusch in den lokalen Medien, als das schier unerschöpfliche Thema „Schmutz“ rauf und runter skandaliert wurde, hat der Senat in tatendurstigem Vokabular einen „Aktionsplan Sauberes Berlin“ vorgelegt. Er richtet einen „dringenden Appell“ an alle, „in einer großen Gemeinschaftsaktion“ einen „Frühjahrsputz“ zu machen und „Schmutz und Verschandelung der Stadt den Kampf anzusagen“. Populistisch korrekt sieht das „Maßnahmenbündel“ unter anderem vor, Sozialhilfeempfänger und Langzeitarbeitslose für Reinigungsarbeiten einzusetzen und acht Millionen zur „Beseitigung und Verhinderung“ von „Schmierereien“ auszugeben.

„Berlin – putz dich!“ freute sich die BZ am Tag danach. Über ein halbes Jahr hatten die Reinigungskräfte in Lokalpresse und -politik gebraucht, um Handlungsbedarf zu erzeugen. Daß der „Aktionsplan“ sich besonders den Graffiti- Sprayern widmet, ist die logische Fortsetzung des rhetorischen Kampfes, der seit Ende des Sommers geführt wurde.

Da war die Rede von „Schmutz- und Schmierfinken“, die die Stadt „verschandeln“, von „optischen Terroristen“, deren „Vandalismus“ „gesellschaftsschädliches Verhalten“ sei. Dagegen werde „Tag und Nacht“ von der „Einsatztruppe“ der „Graffiti-Feuerwehr“ mit einer „Wunderwaffe“ an der „Schmierfront“ „der Kampf“ geführt ... Aber es begann ziemlich harmlos.

Anfang August, gleich nach den Ferien, zitieren die Berliner Zeitungen das Trio Landowsky, Schönbohm, Peschel-Gutzeit mit diesen drei Sätzen: „Berlin ist zu dreckig, vor allem die BVG“, „Das Erscheinungsbild muß sich ändern“ und „Berlin muß endlich hauptstadtreif werden“.

Es wäre zuviel behauptet, das Trio habe eine Kampagne inszeniert. Sie wissen, daß man dazu die Presse benötigt; daß man über Bande spielen muß: Thema anschubsen und abwarten, wer es ins Rollen bringt.

Gewehr bei Fuß steht sofort die BZ mit ihrem Samstagskommentator Wolf Jobst Siedler. Er konstatiert „Berlins völlige Verwahrlosung“ durch „Graffiti und Verunreinigung“, die zur „Verlotterung der Stadt“ führten. „95 Prozent aller Berliner“ litten „seit Jahren“ darunter. Die anderen fünf Prozent, das sollen die Graffiti-Sprayer sein! Siedler meint, daß Berlin erst dann wieder von allen geliebt werde, wenn es diese Graffitis an Häuserwänden nicht mehr gebe, wenn diese fünf Prozent der Bevölkerung endlich aufhören würden, die anderen 95 Prozent zu tyrannisieren.

Ende August weigert sich die CDU Zehlendorf, Graffiti-Sprayern Freiflächen zur Verfügung zu stellen, da kontrolliertes Sprayen von „höchst zweifelhaftem pädagogischem Wert“ sei, und schickt selbst die gutwilligsten Kids zurück in die Nacht, an die Hauswand.

Berlin sei „zu dreckig, zu unreif, zu provinziell“, legt die Partnervermittlung Hassemer Anfang September nach. Das Spiel über Bande funktioniert. Die Saubermann-Show des SFB, „Berliner Platz“, macht eine Live-Diskussion zum Thema Stadt und Schmutz. Dort sagt jemand: „Leute, die keine Arbeit haben, verbreiten Schmutz.“ Volker Liepelt von der CDU nennt Graffiti „optischen Terrorismus“. Man kommt vom Thema Graffiti nicht mehr weg.

Immer dasselbe Muster: Erwachsene Menschen sprechen über „Schmutz“, reden jedoch nicht über Schrotthalden an Bahnböschungen oder Hundekot auf Schritt und Tritt, auch so etwas Banales wie die Reinigung von Schulhäusern kommt ihnen nicht in den Sinn, sondern sie beschweren sich über ihre Jugendlichen! Von Anfang an fällt auf, daß die Schreihälse der Sauberstadt-Kampagne nur Graffiti meinen, wenn sie „Verwahrlosung“, „Verschandelung“ oder „Vandalismus“ sagen.

Ende September ist das Thema zu den Politikern zurückgeschwappt. Die Abgeordnetenhaus-Debatte läuft als ordentliches Wettpinkeln nach dem Muster ab: Ich nehme extreme Positionen ein, so daß der politische Gegner auch extreme Positionen einnehmen muß, so daß ich dann noch besser auf ihn draufhauen kann.

Das erinnerte fatal an die Asyl- Debatte, die sich die politische Klasse so lange leistete, bis Radikale oder auch nur gelangweilte Jungmänner Häuser anzündeten, nachdem sie sich jahrelang anhören durften, was die Mitte der Gesellschaft über diese Häuser dachte. Als die Häuser dann brannten, begann das große Augenreiben.

Anfang Oktober fallen in Hellersdorf zwei Schüsse. Fünf deutsche Jugendliche verteidigen dort schon länger den Inhalt „ihrer“ acht Mülltonnen im eingezäunten Karree vor Ausländern, die manchmal darin wühlen. Deutsche Berber dürfen das, denn „Penner sind doch was anderes als Ausländer“. Erwischen die fünf selbsternannten Wächter Ausländer an „ihrem“ Müll, dann vertreiben sie sie oder zwingen sie, den gesamten Müllplatz aufzuräumen. Die beiden bosnischen Jungs sollten nur vertrieben werden. Aber ein Bosnier zieht seine Pistole und schießt zweimal und trifft. „Er sah nicht weg und mußte dafür mit dem teilweisen Verlust seines Augenlichts bezahlen“, schreibt die Morgenpost. Und Bild: „Sie wollten für ein bißchen Sauberkeit im Kiez sorgen, jetzt liegen sie im Krankenhaus.“

Das sind unsere jungen Helden, im Gegensatz zu den miesen Sprayern: Sie sehen nicht weg und wollen nur ein bißchen Sauberkeit. Bemerkenswert die Sprachverdrehung: „Nicht wegsehen“ in bezug auf Ausländer heißt ja wohl, sie bei Übergriffen zu schützen, oder? Und „Sauberkeit“ meint auf einmal, Ausländer dürfen nicht in „deutschem Müll“ wühlen und können mit Gewalt gezwungen werden, öffentliche Plätze aufzuräumen.

Das Spiel über Bande harmoniert. Jeder weiß, was er zu tun hat. Nur sechs Wochen sind vergangen, als der „Berliner Platz“ wieder eine saubere Sendung macht: „Junkies aus der City raus – Berlin räumt auf“. Selbst Erich Böhme auf Sat.1 zieht mit: „Aktion Saubere Innenstadt – müssen Bettler und Penner raus?“

Unmerklich hat sich die „Debatte“ verschoben. War anfangs nur von Schmutz die Rede, dann im selben Atemzug vom „Schmutz“ der Graffiti-Sprayer, so wird nun überlegt, Leute auszusperren, die Schmutz „sind“. Und inzwischen jagt die Presse mit diesem Thema genau jene Politiker, die das Thema angeschubst haben.

Anfang November hält die Morgenpost Schönbohm und Peschel-Gutzeit vor, „Glaubwürdigkeit zu verspielen“. Das politische Topthema des Sommers sei „still im Straßendreck versunken“. Die Urheber der Debatte seien „auf Tauchstation gegangen“.

Der Vorteil dieses Aufenthaltsortes liegt für die beiden Senatoren darin, daß sie andere die Drecksarbeit haben machen lassen und nun auf einen Handlungsbedarf verweisen können. So entsteht der „Aktionsplan Sauberes Berlin“, der lustigerweise von Senator Strieder vorgelegt wird.

Eine Neuköllner Grundschule. In weiser Voraussicht hat man sich hier schon länger um private Unterstützung bemüht und sie gefunden. Die Schulleiterin führt eine Sponsorin durch das Schulgebäude. Das Treppenhaus sieht wüst aus. Unter dem Sand verschwinden die Noppen des Fußbodenbelags. Die Sponsorin will nicht unhöflich sein und sagt: „Kann es sein, daß es hier schmutzig ist?“ Die Schulleiterin erklärt, wie es dazu gekommen ist. Im Mai 1996 hat das Bezirksamt die Mittel für die Schulreinigung halbiert. Die beauftragte Firma säubert die Schule seitdem nur noch alle zwei Tage. „Aktionsplan“ hin und her – dabei bleibt es.

„Aktionsplan Sauberes Berlin“ – das heißt nicht, daß Berlin sauber sein, sondern sauber erscheinen soll. Deshalb hören wir so oft, Berlins „Erscheinungsbild“ müsse sich ändern. Auch das erinnert an die Asyl-Debatte. Damals stellten Politiker sich gern vor ein noch qualmendes Haus und beklagten, daß Deutschlands Ruf im Ausland Schaden nehme. „Erscheinungsbild“ heißt: Wo Touristen hinkommen, soll die Stadt sauber sein. Die Schulhäuser gehören nicht dazu.

Der Begriff „Erscheinungsbild“ wird bereits Anfang August von Schönbohm benutzt. In dem Aktionsprogramm des Senats taucht er ein halbes Jahr später wieder auf: Dort steht, daß das „negative Erscheinungsbild“ der Stadt „von dem undisziplinierten gesellschaftsschädlichen Verhalten von Mitbürgern geprägt“ werde.

Wie bitte? „Gesellschaftsschädliches Verhalten“? Wie nennen wir das Subjekt, das gemeint ist? Vielleicht „Gesellschaftsschädling“? Wie bitte? Woran erinnert uns das nur?

Über die Schmutz-Debatte ist eine Jugend-Debatte entstanden. Das haben noch nicht alle gemerkt. Genausogut hätte die Schmutz- Debatte eine Hundehalter- oder eine Verpackungs-Debatte oder eine Schulreinigungs-Debatte werden können. Aber nein, die Schmutz-Debatte ist eine Jugend- Debatte. Das haben deswegen noch nicht alle gemerkt, weil das Wort Jugend dabei gar nicht fällt. Man sagt „Graffiti-Sprayer“ und fügt, nun auch senatsamtlich, hinzu: „Schmutz- und Schmierfinken, Vandalismus“.

Abgesehen von dem miesen Beigeschmack, den ich habe, weil ein Gespräch über Jugendliche und das, was sie gern tun, erst entsteht, wenn über Schmutz geredet wird, ist in Berlin das Dumme, daß ein Gespräch erst gar nicht entstanden ist.

Auf Graffiti kann man so oder so reagieren. Entweder man betrachtet sie als Sachbeschädigung, oder man versucht die Integration. Man greift hart durch, oder man sucht ein Arrangement. Man will eine andere Jugend, will wegsperren und einschüchtern, oder man sucht eine Lösung für beide Seiten. Leider gehören die Lautsprecher in Berlin nur der ersten Fraktion an. Die CDU hat mit ihrer widerlichen Kriminalisierungsstrategie eindeutig Oberwasser. Die CDU weigert sich auf jeder Ebene, Sprayern Angebote zu machen und bezeichnet deren Handwerk als „Terrorismus“ – als wollten sie einen Teil der Jugend in Stammheim einbuchten. Die CDU will nicht mit den Jugendlichen, wie sie sind, kooperieren, sondern die CDU will andere Jugendliche.

Wenige Tage nach Verabschiedung des „Aktionsplans“ macht die BZ groß damit auf, daß allein das Auswechseln zerkratzter S-Bahn-Scheiben drei Millionen Mark koste. Aber niemand spielt mit, auch nicht über Bande. Warum auch? Mit acht Millionen gegen Graffiti sind die Behörden, die seit Jahren an der Jugendarbeit sparen, doch gut bedient! Es käme teurer, Jugendlichen Freizeitangebote zu machen.

In der bereits erwähnten Neuköllner Grundschule sind Graffiti oder Sprayer nicht das Problem. Es gibt Freiflächen, auf denen die Kids sprühen oder malen. Das Problem mit dem Schmutz, es liegt zentimeterhoch im Treppenhaus.

Aber nein. Beschlußlage ist: Wenn Kinder morgens in die Schule kommen und die kompletten Abfälle vom Vortag wiederfinden, dann ist das kein Dreck. Wenn aber auf dem Müllkorb an der Straßenecke irgendwas draufgesprüht ist, dann ist das Dreck.

Die Kinder rennen aus der Neuköllner Grundschule heraus auf die Straßen, zu den Bushaltestellen. Warum sollen die Straßen und die Busse sauberer sein als die Schulen? Das müßte ihnen mal jemand erklären.

Der Autor ist Schriftsteller. Letzte Veröffentlichungen: „Berliner Simulation“, 1983; „Hauptsache Deutsch“, 1992; „Der weiße Wannsee“, 1993; „Warten auf den Führer“, 1993; „Tod in New York“, 1995; „Ungezielte Blicke“, 1996