Filmfeste Biographien
: Das Ende der Übertragung

■ Wirklich werden: Rhetorik und Tragödie im Regelwerk der Psychoanalyse

Die Wiederkehr des flüchtigen Vaters ist ein durchgängiges Motiv in etlichen Spielfilmen aus den vergangenen Jahren (zuletzt bei Spike Lee). Ergänzt wird es zur Zeit durch das Motiv der früh sterbenden Mutter, wobei die Kinder in der Folge zu introvertierten Halbwaisen werden, was manchen Darstellern extrem gut steht. Zum Beispiel dem Kinderdarsteller in Das Weihnachtsoratorium, der dann abgelöst wird von Johan Widerberg. Dieser verleiht dem jungen Mann eine erotische Energie, die aus seiner Ängstlichkeit gespeist ist. Mit einer Frau, die ihm abgewöhnen muß, zu ihm „Tante“ zu sagen, zeugt er baldigst einen Sohn...

Das Tantenproblem ist auch Ausgangspunkt der „Genealogien eines Verbrechens“ von Raoul Ruiz. In den feudal anmutenden Haushalt der Tante kommt René als Vollwaise und „Monster“, wie ihn die Erwachsenen liebevoll nennen. Die labyrinthisch gestrickte Erzählung handelt (zur Hälfte) von einer Selffulfilling prophecy: der Weissagung der Tante, der Neffe werde ihr das Leben nehmen. Verdoppelt wird die Geschichte durch die Begegnung des programmierten Mörders mit seiner Anwältin. Ruiz streift locker die Ikonographie der Wiedergänger, Geheimbünde, Ahnengemälde – es gibt delikate Interieurs wie einseitig transparente Spiegel.

Der schleichende Witz des Films handelt vom Phänomen der Übertragung in der Psychoanalyse. Es besagt grob, daß man sich in einer bestimmten Phase der Therapie in den Therapeuten verlieben soll, so wie man als Kind die Mutter liebt – zum Beispiel. Wenn der Couch-Roman dann in Erkenntnis aufgeht, muß sich die Zuneigung jedoch verflüchtigen. In den „Genealogien“ aber ist die Übertragung nicht auflösbar. Die Tante ist die Therapeutin. Und Teil einer Verschwörung.

Renés Tante und Anwältin, als Doppelrolle, spielt Catherine Deneuve. Die Pressekonferenz mit ihr war mehr als ungewöhnlich, weil Deneuve darauf bestand, mit dreihundert Journalisten im Saal „ein Gespräch zu führen“. Dazu muß man wissen, daß die Fotografen bei prominenten Gästen über die ihnen zugestandene Zeit hinaus das Podium belagern und die Sicht in den Saal versperren. Deneuve benutzte nun die Fotografen – indem sie sie frontal kritisierte –, um auf die Wirklichkeit ihrer Person hinzuweisen. Sie war also, im Sinn der Psychoanalyse, nicht bereit, eine Übertragungssituation zu etablieren. Soviel hat sie aus der Psychoanalyse gelernt. Also das Wichtigste.

Streckenweise bekam die Konferenz die Qualität eines vorzüglichen Universitätsseminars. Raoul Ruiz sagte, die Moderne habe „drei Arten des Determinismus hervorgebracht: die Psychoanalyse, den Marxismus und die Genetik“. Sein Film karikiert das Modell. Das hat viele Zuschauer irritiert. Denn, was in den „Genealogien“ als Charakter übrigbleibt, ist eine sehr schlüpfrige Angelegenheit.

Der französische Diskurs, lautet mein Verdacht, hält die Tragödie für einen Bereich der Rhetorik. Deshalb muß man auch dann aufpassen, wenn viel geredet wird. Chris Markers „Level Five“ ist ein gar nicht so spannendes, aber eben doch komplexes Lehrstück über Okinawa, wo ganze Familien nach dem Ehrencodex des seppuku von Vätern und Söhnen dahingemetzelt wurden, weil sie sich den Amerikanern nicht ergeben konnten. In Markers Fassung folgen wir der Recherche einer Frau am Computer, was auf verblüffende Weise klarmacht, daß Wissen ein Baukasten ist, in dem alles Material schläft. Deshalb beruht auch die „Moral“ des Films auf Ungleichzeitigkeit; sie artikuliert sich in den Anschlüssen. Die Frau am Computer rekonstruiert übrigens die Recherche ihres Freundes, der gestorben ist. Wenn sie zu ihm spricht, sieht sie in die Kamera. Mit den Augen des Publikums schaut der Verstorbene zu ihr zurück. Ulf Erdmann Ziegler