Düsterer Almanach des Alltäglichen

■ Es dauerte ein Jahr, bis die Petersburger Viktor Kossakowski in ihre Wohnungen ließen, an ihren Arbeitsplatz – und an ihr Bett: „Sreda – Wednesday“ (Panorama)

70 Menschen aus St. Petersburg, allesamt geboren am Mittwoch, dem 19. Juli 1961, im damaligen Leningrad, hat der russische Regisseur Viktor Kossakowski in „Sreda – Wednesday“ porträtiert. Der Tag ist auch sein eigener Geburtstag. Eine ebenso aufwendige wie entbehrliche Herangehensweise, um zu einem aussagekräftigen Bild der Stadt zu kommen. Denn „Sreda“ funktioniert, auch ohne daß man weiß, daß alle Porträtierten genau gleichaltrig sind. Und zwar ausgezeichnet.

Über ein Jahr Recherche war nötig, bis die Petersburger Kossakowski in ihre Wohnungen ließen, an ihren Arbeitsplatz – und an ihr Bett. Zweimal ist die Kamera im Kreißsaal mit dabei, zu Beginn wird eine freudestrahlende Mutter von einem gesunden Jungen entbunden, am Schluß wird ein stummer Säugling der von den Geburtsanstrengungen zermürbten Mutter nur vorgezeigt. Unters Sauerstoffzelt muß die Kleine, wird ihr mitgeteilt. Es ist klar: Wenn sie überlebt, wird sie es schwer haben. Wie die Mutter bereits gelitten hat, das sehen wir.

Kossakowskis Kamera ist keine schamhaft versteckte, voyeuristische, sie ist so selbstverständlich mit dabei wie ein Freund. Deshalb hat es nichts Spekulatives, wenn der Wodkatrinker am Mittagstisch Blut spuckt, wenn sich, in Großaufnahme, der Ertrag einer Rasur in einem schmierigen Wasserglas auflöst, wenn eine traurig aufgeqollene Frau und ihr ziemlich dünner Mann in ihrer winzigen vollgestellten Wohnung über das Leben reden, während ihre riesige Dogge unruhig vom Fenster zum Tisch geht und vom Tisch zum Fenster.

„Sreda“ könnte immer weitergehen, so wie der Zuschauer immer neugierig bleibt auf das, was in den vier Wänden der Mietskasernen und Plattensiedlungen passiert, über deren Dächer die Kamera am Ende des Films schwebt. Wachgehalten wird die Neugier natürlich nicht von allein, sondern durch die Kunst, diesen Almanach des Alltäglichen zu rhythmisieren, zu kontrastieren. Zum Beispiel durch Wochenschauaufnahmen aus dem Jahre 1961. Der Kommunismus feiert sich selbst: Wohnungsbauprogramm, kollektive Ertüchtigung – der Mensch denkt nicht mal, die Partei lenkt.

Davon ist heute nicht mehr viel übrig. „Das Leben ist schön“, sagt einer der Porträtierten, „alles geht gut.“ Sein Gesicht spricht eine andere Sprache.

Der Film hätte „noch viel düsterer“ werden können, sagt der Regisseur nach der Vorführung. Dabei ist die Dosis vollkommen ausreichend. Alexander Musik

„Sreda“. D/GB 1997, 90 Min. Regie: Viktor Kossakowski