In God we trust

Der Mensch in der Glaubensfalle: Eine Entdeckung, die besser verborgen geblieben wäre – zur Uraufführung von Albert Camus' „Der Abtrünnige“  ■ Von Axel Schock

Der Namenlose, er rekapituliert sein Leben, ordnet seine Erinnerungen, die ihm dann doch immer wieder entgleiten, ihn aus der Bahn werfen. „Alle haben sie mich betrogen.“ Erst die Eltern, die mehr mit ihrer Sauferei denn mit der Erziehung ihres Sohnes beschäftigt waren. Dann die Pfaffen, die ihm die Liebe zu Gott eingebleut haben. Einem Gott, dem er erst vertraut, an den er glaubt, für den er zu den Barbaren in die Wüste zieht. Und der sich dann als die falsche Entscheidung herausstellt.

Ein Mann auf der Suche nach der rechten Religion: Eine gute Stunde lang nimmt der junge Schauspieler Thomas Fritz Jung die schwere Aufgabe auf sich, im Alleingang das Publikum in seinen Bann zu ziehen. Es gilt eine Uraufführung zu absolvieren, ein Stück eines veritablen Weltautors, von niemand Geringerem als Albert Camus. Die Trouvaille, die Regisseur Friedrich A. Roesner für die erste Berliner Produktion des 1990 in Dortmund gegründeten Theaters der Entgleisung ausgegraben hat – sie hat dem Theater bislang nicht gefehlt.

Der Monolog dieses Priesters in der Wildnis erscheint bisweilen wie eine Vorstudie oder ein schlechter Abklatsch des Mythos von Sisyphos, ohne jedoch dessen poetische Dichte zu erlangen. Allenfalls merkwürdig mutet die Geschichte des Abtrünnigen an: Ein katholischer Christ, der sich selbstbewußt durch seinen Glauben als besserer Mensch fühlt und sich unversehens einem fremden Gott, einem Fetisch unterwirft und ihm ganz und gar untertan wird. Als ein neuer Missionar sich ankündigt, die Stadt zu bekehren, ermordet ihn der verwirrte Geist, um den Glauben an den Fetisch zu retten. Sein alter Gott nämlich, jener, den er auf dem Priesterseminar kennenlernte, verkündet das Gute, aber dies könne immer nur ein Traum bleiben, „eine Grenze, die man nie erreicht“. Der Fetisch aber will das Böse, den Haß. Das läßt sich leichter regeln als gute Taten.

Die philosophische Quintessenz des Textes bleibt dürftig; nicht von ungefähr dauerte es so lange, bis das Stück den Weg auf die Bühne fand. Regisseur und Akteur begegnen dieser Schwäche mit szenischem Dauerbeschuß. Alles Gesagte wird auch gespielt. Thomas Fritz Jung nutzt ihn vor allem als eine breitgefächerte Schauspielerübung. Jeden Halbsatz, jedes Stichwort, das fällt – er verwandelt die Stimme, verfällt von erregtem Zähnefletschen in sinnliches Schweigen, redet sich in Rage, spricht fiebrig wie im Delirium, brüllt aus voller Lunge, säuselt, verklärt.

Fällt das Wort „Sonne“, geht der Blick nach oben, das Gesicht strahlt. Bei „Salzsäule“ bleibt er für einen langen Moment stumm und erstarrt stehen. Bei „Regen“ tänzelt er lachend mit offenem Mund, der die Tropfen aufzufangen versucht. Manchmal aber ist das einfach zuviel des Guten, und es wird um so deutlicher, daß der Text kaum die Substanz hat, den Abend allein zu tragen.

Thomas Fritz Jung schlägt sich wacker durch den spröden Text und beweist Talent in der gesamten Klaviatur gespielter Emotionen. Aber immer auch ist deutlich: Er stellt ihn nur da. Das Künstliche dieses Monologs haftet auch der dramatisch-emotionalisierten Spielweise an.

Der Abtrünnige wird schließlich von den Priestern des Fetisch ermordet. Auch dieser Gott war eine Enttäuschung, eine falsche Entscheidung. Was lernen wir von Camus: Jeder Glaube ist letztlich ein Irrglaube; ein System, das durch seine eigenen Regeln die Unfreiheit und damit auch die Vernichtung des Individuums fordert.

Am Ende überflutet gleißendes Licht die Bühne. Ein riesenhafter Dollarschein hängt von der Decke. „In God we trust“ ist in der Mitte der Banknote zu lesen.

Theater unterm Dach, Danziger Straße 101. Weitere Vorstellungen heute sowie vom 4. bis 6. April, jeweils um 20 Uhr