Gladiator im Abstrakten

■ Kurt Drawert liest Lyrik im Rahmen der Literatour-Nord

Unter dem neckischen Titel „Literatour-Nord“ tingeln seit einigen Jahren deutschsprachige Autoren durch fünf Städte der norddeutschen Tiefebene. Im rezitatorischen Wettbewerb bringen sie einen jährlichen Etappensieger hervor. In diesem sublimiert-gladiatorischen Rahmen präsentiert sich dem Hamburger Literaturpublikum heute der Lyriker, Prosaist und Essayist Kurt Drawert.

Der 1956 geborene Schriftsteller wird aus seinem jüngsten Gedichtband Wo es war vortragen. Symptomatisch für das zugrundeliegende Motiv des Verlustes steht darin das Gedicht „Sisyphos“. In Drawerts Version des Rolling-Stone-Mythos wird der zur vergeblichen Anstrengung Verurteilte von seiner Tortur freigesprochen. Der neue Zustand der Beschäftigungslosigkeit entpuppt sich jedoch als umso schlimmere Qual: „Das waren noch Zeiten / als es noch einen Gegenstand gab / den es zu bewegen galt“.

Damit verweist Drawert einerseits auf ein allgemeines Abhandenkommen des Konkreten. Das Gefühl des Verlorenseins in der „abgeschafften“ Realität zeigt sich aber auch im Bezug des gebürtigen Brandenburgers und Neo-Wessis auf die soziale Wirklichkeit. So etwa, wenn er die germanische Gegenwart mit Blick auf die nunmehr ex-existente DDR betrachtet: „Mein Freunde im Osten / verstehe ich / nicht mehr / im Landstrich / zwischen Hammer und Weser“.

Die Zeitkritik, die Drawert in der reflexiven Desillusionierung des lyrischen Ichs artikuliert, wird dabei getragen von einer angemessenen Dosis subtiler Ironie. Diese trägt wesentlich dazu bei, die Poeme zu kunstfertigen Manifestationen einer engagiert-distanzierten Gegenwartssicht werden zu lassen.

Für seine zahlreichen Veröffentlichungen wurden Drawert bereits diverse Ehrungen zuteil, u. a. der renommierte „Ingeborg-Bachmann-Preis“ und der „Uwe-Johnson-Preis“. Wie die Chancen des Dichters stehen, nun auch die – fünfstellig dotierte – „Literatour Nord“-Trophäe 1997 zu erlesen, läßt sich heute abend – ganz für umsonst – herausfinden.

Christian Schuldt

Heute, 20 Uhr, Heinrich-Heine-Buchhandlung, Schlüterstr. 1