Erniedrigende Aufträge

Stilsicher, effektvoll und nur mit dem nötigsten moralischen Gewicht: „Panna Nikt – Fräulein Niemand“ von Andrzej Wajda im Wettbewerb  ■ Von Alexander Musik

Altmeister Andrzej Wajda läßt sich nicht beirren. Modische Strömungen à la „Pulp Fiction“ im Westen und „Fallen Angels“ im Osten nimmt er gelassen zur Kenntnis und stellt auch in seinem neuesten Film die Frage, die ihn seit jeher am meisten interessierte: die nach der Moral. Am Schluß von „Panna Nikt – Fräulein Niemand“ spricht die 15jährige Marysia die Frage direkt aus, den Blick auf den Zuschauer gerichtet, verzweifelt: „Bin ich Fräulein Niemand?“

Zuvor hat Wajda, stilsicher, effektvoll, doch ohne Kinkerlitzchen das Wechselbad der Gefühle nachgezeichnet, durch das Marysia gegangen ist, eine schmerzhafte Initiation. Formal geht es klassisch zu, sehr ernsthaft, aber glücklicherweise ganz ohne Altherrengestus. „Fräulein Niemand“ beginnt auf dem Land, und das sieht in Polen immer noch so aus, daß man irritiert ist: Spielt das am Anfang oder am Ende des 20. Jahrhunderts? Marysia zieht mit ihrer Familie, einfache gläubige Menschen, in die Großstadt – also doch: Ende des 20. Jahrhunderts. Da paßt Marysia gar nicht so recht hinein. Und gerät gleich in den Sog der verführerischen Freundschaftsangebote zweier ihrer Klassenkameradinnen.

Die eine, Kasia, ist hoch motiviert, hexenhaft. Ihr Credo: Freiheit. Die andere, Ewa, ist aus reichem Hause, gelangweilt und dekadent. Ihr Credo: Freizeit.

Marysia gerät erst in den Bann von Kasia: kleidet sich wie sie, schneidet sich die Haare ab, kommt nicht mehr nach Haus. Mal soll Marysia die Schwester sein, mal wird sie verstoßen von der leidenschaftlichen Kasia, die ihr von ihrem inneren Dämon erzählt und von der Hölle, die sie Marysia zeigen will. Marysia folgt. Auch in die Kirche, wo Kasia ins Weihwasser spuckt, das daraufhin bedrohlich zu wallen beginnt, worauf ein innerer Dämon Kasia glutrote Augen verleiht und ihre Stimme verfremdet. Der einzige etwas grobe Effekt in Wajdas Film, der die Leiden und Leidenschaft Marysias ansonsten ganz ohne Kinobudenzauber darzustellen weiß.

Dann gerät Marysia in die Umlaufbahn Ewas. Schöne Kleider, Partys, Beifall bekommt sie von ihr. Man spielt „Befehlen“. Gibt sich gegenseitig erniedrigende Aufträge, die bedingungslos auszuführen sind. Bei Nichteinhaltung Liebesentzug. Bis Marysia sich entscheiden soll zwischen den beiden Freundinnen. Bis sie merkt, daß Kasia und Ewa mit ihr gespielt haben: zwei Mädchen, die sich aus dem dritten ein Spielzeug geformt, ihm den Boden unter den Füßen weggezogen haben...

Wajda ist alarmiert über die verblassende Bedeutung, die gut und böse heute in seinem Land haben, das ist offensichtlich. Er ist alarmiert, ohne hysterisch zu sein. „Fräulein Niemand“ ist mit dem moralischen Gewicht gedreht, das das Thema benötigt. Trotzdem ist der Film kein bißchen bleiern.

„Panna Nikt“. Polen/Deutschland 1996. Regie: Andrzej Wajda. Mit Anna Wielgucka, Anna Mucha, Anna Powierza u.a. Heute: 12 Uhr Royal-Palast, 18.30 Uhr Urania und 22.30 Uhr International