Das Süße im Kunststoff

Zucker aus Mais- und Weizenstärke wird zur Veredelung von Plastik eingesetzt  ■ Von Wiebke Rögener

Sie rochen etwas komisch, und wenn sie auf den Boden fielen, gingen sie leicht kaputt: Zelluloidpuppen sind heute nur noch als Sammlerstücke begehrt. Die Lieblinge der Kinder sind längst aus PVC. Sie enthalten zwar problematische Weichmacher, sind aber dem rauhen Alltag im Kinderzimmer besser gewachsen. Zelluloid – aus Zellulosenitrat und Kampfer – spielt heute in der industriellen Kunststoffproduktion ebensowenig eine Rolle wie das vor hundert Jahren erfundene Galalith, das aus mit Formaldehyd vernetztem Milcheiweiß bestand. Bis 1930 wurde der ganz überwiegende Teil der technisch verwendeten Polymere aus nachwachsenden Rohstoffen hergestellt. Dann begann der Siegeszug der Erdölprodukte.

Inzwischen sind Kunststoffe aus Kohlenhydraten wie Stärke oder Zellulose erneut ein Thema: Die Endlichkeit der Erdölvorräte, die riesigen Agrarüberschüsse und manche günstige Eigenschaften – z.B. biologische Abbaubarkeit – machen Materialien aus Naturstoffen wieder interessant.

Unter Leitung des Chemieprofessors Günter Wulff entwickelt eine Arbeitsgruppe an der Universität Düsseldorf Kunststoffe, die zwar nicht völlig, aber doch zum Teil aus Zucker bestehen. Dabei geht es nicht um den süßen Geschmack, sondern um handfeste technische Verbesserungen. Ein gravierender Nachteil herkömmlichen Plastiks besteht in seiner starken elektrostatischen Aufladung. Staubanziehende Oberflächen sind nicht nur ein ästhetisches Problem. Auch die Funktion elektronischer Geräte kann dadurch gestört werden. Zuckermoleküle dagegen binden Wasser und verhindern so die Aufladung. Die Chemiker erfanden nun ein Material, das die Vorteile synthetischer und natürlicher Polymere in sich vereinigt. In Ketten herkömmlicher Kunststoffe bauen sie Zucker ein, wie er zum Beispiel in der Stärke von Mais oder Weizen enthalten ist. Damit das gelingt, müssen die Kohlenhydrate zunächst den synthetischen Bausteinen ähnlich gemacht werden: Die polaren, wasserbindenden Gruppen der Zuckermoleküle werden durch sogenannte Schutzgruppen abgeschirmt. So verbinden sie sich problemlos etwa mit Polystyrol. Es entsteht ein Material mit einem Zuckeranteil von fünf Prozent und den mechanischen Eigenschaften des herkömmlichen Kunststoffs. Erst beim fertigen Plastikprodukt werden an der Oberfläche die Schutzgruppen abgespalten und wird so die wasserbindende Eigenschaft der Zuckermoleküle wiederhergestellt.

Doch nicht nur für die Elektronik sind zuckerhaltige Kunststoffe besser verträglich. Auch in der Medizin bieten sie Vorteile: Implantate und Katheter könnten mit einem solchen Material beschichtet werden, um unerwünschte Reaktionen mit Blut oder Gewebe zu verhindern. Weiterhin sollen auch umweltfreundliche Wegwerfwindeln aus der Symbiose von Zucker und Plastik hervorgehen: Ein Material, so quellfähig wie die zur Zeit gebräuchlichen Superabsorber in Pampers&Co, dabei aber biologisch abbaubar, ist derzeit in der Entwicklung.

Während in diesen Anwendungsfeldern ein geringer Zuckeranteil die synthetischen Kunststoffe veredelt, ist es in einem zweiten Arbeitsbereich der Forschergruppe umgekehrt. Hier werden eher kleine chemische Substanzen mit Zucker ummantelt. Verwendet wird dafür eine bestimmte Form der Stärke. Sie besteht aus langen Ketten von Zuckermolekülen, die eine sogenannte Helix, eine wendeltreppenförmige Struktur, bilden. Eine solche Helix kann in ihrem unpolaren Inneren kleinere Moleküle aufnehmen. Die wasserbindenden Gruppen der Zuckerkette sind nach außen gerichtet. So gelingt es, Substanzen in Wasser zu lösen, bei denen das sonst schwer oder gar nicht möglich wäre. Wulff sieht zahlreiche Anwendungsmöglichkeiten dieses Verfahrens: Es könnte in der Lebensmitteltechnologie empfindliche Nährstoffe schützen oder Arzneimittel für den Körper besser verfügbar machen. Besonders fortgeschritten aber ist die Entwicklung im Bereich der Pflanzenschutzmittel: Die Stärkehülle soll einerseits umweltschädliche Lösungsmittel und Emulgatoren überflüssig machen, die normalerweise zur Verteilung der Agrochemikalien erforderlich sind. Andererseits ließe sich die Konzentration von Pestiziden bei gleicher Wirksamkeit auf ein Zehntel oder weniger verringern.

Bei so viel anwendungsnaher Chemie ist das Interesse der Industrie nicht erstaunlich. Die Pestizide im Stärkemantel haben erste Tests in Gewächshäusern der Bayer AG bereits hinter sich, Feldversuche beginnen in diesem Frühjahr. Für Anwendungen im Lebensmittelbereich kooperiert die Arbeitsgruppe mit der Firma Cerestar. Zum Arzneimittelsektor schließlich möchte Wulff nicht zu viele Details preisgeben, denn hier sind Patentanmeldungen noch in Vorbereitung.

Die Kombination von Zucker und Plastik birgt offenbar eine Menge wirtschaftlich interessanter Möglichkeiten. Doch: „Mais und Zucker statt Erdöl und Kohle“, wie es die Pressestelle der Uni Düsseldorf formulierte, wird es durch diese Verfahren nicht geben. Nicht der Ersatz von Erdölprodukten, sondern deren Veredelung mit natürlichen Substanzen ist beabsichtigt.

Für ihre Arbeiten auf diesem Gebiet erhielten die Düsseldorfer Chemiker im vergangenen Jahr den von der Agrarindustrie gestifteten und unter Mitwirkung des Europaparlaments verliehenen Cereal-Preis. Ausgezeichnet wurden Projekte, die außerhalb der Lebensmittelproduktion industrielle Verwertungsmöglichkeiten für die Getreideüberschüsse der EU aufzeigen. Etwa ein Fünftel dieser Überschüsse könnte langfristig durch die Verwendung von Zucker für Kunststoffprodukte abgebaut werden, schätzt Günter Wulff. Nachzudenken wäre über die innere Logik eines Projekts, das den Einsatz von Pestiziden optimiert, die in der intensiven Landwirtschaft zur Produktion von Überschüssen beitragen, für deren Abbau dann wiederum ein Preis ausgesetzt wird.