Wer hat Angst vor dem Cyberspace?

In München debattierte die von Burda gesponserte „Akademie zum dritten Jahrtausend“ die Geschicke der Informationsgesellschaft. Das Internet ist kein Beitrag zur Demokratisierung der Gesellschaft an sich  ■ Von Niels Werber

Wer heute Internet sagt, denkt an Kinderpornographie. Diese Vermutung wird von Bayerns Ministerpräsident bestätigt, der in seinem schirmherrschaftlichen Grußwort an die Konferenz „Internet und Politik“ fordert, der Staat habe das Internet sauberzuhalten und den Bürger vor Kinderpornographie zu schützen. Als jemand, der sich über den Mißbrauch im Netz sorgt, war er auch im Bayerischen Rundfunk zu sehen. Bei Bayern-Online sorgt schon jetzt eine „Netzpolizei“ für Ordnung.

Schutz war eines der Leitmotive der Tagung, wenn auch die meisten Referenten sich Abhilfe gegen frei flottierende Pornos, Hetzschriften und politisch Inkorrektes aller Art weniger vom Staat erwarten, sondern auf die Selbstregulierung des Internet und des Gewohnheitsrechts der „Netiquette“ setzen. Der bayerische Fall eines Ehepaars, das im Internet Kindersex offerierte, ist erst ein paar Wochen alt. Schutz hat also einen guten Klang. Wer wollte schon etwas dagegen einwenden, daß die Verbreitung von pädophilem Material verboten und verfolgt wird? Zwei Referenten sahen es dennoch anders.

Geert Lovink, der auf der Tagung die „Digitale Stadt Amsterdam“ vertrat und sich mit einer Reverenz vor Stoiber als derjenige offenbarte, der die in Deutschland inkriminierten Web-Seiten der Zeitschrift radikal über den holländischen Provider XS4ALL.nl weltweit zugänglich machte, meint, die deutsche Debatte um Pornos oder terroristische Schriften im Netz zeige nur, daß man im User zuallererst den Konsumenten von Pornographie oder Rassismus sehe.

Andreas Pfitzmann, Experte für Kodierungstheorie an der TU Dresden, sieht in der gebetsmühlenartigen Warnung vor globaler Kinderpornographie auf den Bildschirmen von Minderjährigen die Kehrseite einer veritablen „Angst vorm Netz“.

Staatliche Schützer seien aber überflüssig, da der Bürger sich sehr leicht selber behüten könne. Denn schließlich erscheint auf dem Screen des harmlosen Users nicht plötzlich wie aus dem Nichts ein schmutziges Bild oder gemeines Pamphlet, sondern man muß nach dem von Stoiber heraufbeschworenen „Schmutz und Schund“ schon fleißig suchen. Man kann sich Pornos schneller am Kiosk besorgen.

Ein anderes Problem ist der Schutz der eigenen Daten. „Elektronische Agenten“ und sogenannte Cookies erstellen Personenprofile, denn jeder, der Dienstleistungen im Netz in Anspruch nimmt, hinterläßt dabei persönliche Spuren. Um diesen Preis des Privaten erhält man Zugang – und die Unternehmen wissen, wem im Netz sie was verkaufen können. Spiros Simitis, Professor für Rechtsinformatik, hält diese gängige Praxis für verfassungswidrig. Die Anonymität der User müsse durch Verschlüsselungsprogramme sichergestellt werden, „Cookies“ gehören verboten. Simitis weiß selbst, daß besonders die kriminelle Kommunikation für gute kryptologische Software dankbar sein wird und daß ohne elektronische Agenten der User in der Datenwüste des Internet verlorengehen wird. Je detaillierter die „Agenten“ meine Bedürfnisse erfassen, desto schneller erhalte ich aus dem Netz das, was ich will. Der Preis für diesen Service ist das Risiko, zum gläsernen Konsumenten zu werden. Daß das Internet per se zur Demokratisierung der Gesellschaft beiträgt, glaubt kaum jemand mehr, auch wenn noch gelegentlich zu hören ist, daß ein dezentrales, interaktives, preiswertes und für jeden zugängliches Medium gerade die Demokratie fördere, als führe das Herumhängen in Chat-Rooms schon zur Umstrukturierung politischer Institutionen.

Bei den amerikanischen Referenten fällt auf, daß sie im Internet nur ein geeignetes Medium zur effektiveren Organisation lokaler Aktivitäten sehen. Es sind Kommunen, die das Engagement der Bürger nicht ins Netz lenken wollen, um „virtuelle Gemeinschaften“ zu stiften, sondern über das Netz in die „Community“ leiten, deren Räson aber der persönliche Austausch sei. Obschon die Folgen des Internet für die politische Kultur unabsehbar sind (B. Barber) und gerade die „Multipotentialität“ der Technik den unterschiedlichsten Einsatz gestattet (St. Miller), fordert die von der „Akademie“ verabschiedete „Münchener Erklärung“ zur „Zivilisierung des Cyberspace“ und zur „Modernisierung der Demokratie“ einen „hohen Einsatz öffentlicher und privater Mittel“. Der Staat solle „die neuen Kommunikationsmittel“ so ausbauen, daß „die informationelle Grundversorgung gesichert und ein universaler und freier Zugang für alle“ und auf alles gewährleistet werde. Dies sind schöne Forderungen, aber nichts substantiell Neues. Publizität gehört seit zwei Jahrhunderten zur Forderung an die Demokratie. Daß aus der bloßen technischen Möglichkeit, Kommissionsberichte und Gesetzesvorlagen aus dem WWW runterzuladen, schon folgt, daß dies wirklich in nennenswerter Zahl geschieht, darf bezweifelt werden. Der Zugang für alle impliziert ja keinesfalls, daß dann auch alle plötzlich an politischen Prozessen partizipieren wollen oder gar die Zeit dazu haben. Während die deutschen Akademiemitglieder, etwa Claus Leggewie, vom Staat verlangen, was üblicherweise verlangt wird, nämlich Geld für gute Zwecke wie mehr Bildung, mehr Bürgernähe, mehr Demokratie, mehr..., gibt es auch Gegenbeispiele. Die Netzaktivisten aus dem digitalen Amsterdam lehnen jede Subvention durch öffentliche Körperschaften ab. Sie lassen sich lieber in die „Web-Stühle“ einspannen und verdienen Geld mit ihrer Software, als sich in die Abhängigkeit staatlicher Interessen zu begeben. Hierzulande scheint man sich dagegen von Subventionen vor allem Schutz vor der Wirtschaft zu versprechen, die gierig wie nie dabei ist, das Netz zu erobern.

Ganz offen stellte Ekkehart Gerlach (Vebacom) die Frage nach dem Profit. Welche Waren gibt es, deren Transport eine Investition in 2,5 Gigabyte pro Sekunde schnelle Leitungen rechtfertigen würde? Welche Applikationen bringen die Nutzer dazu, die High- speed-Netze auszulasten und Geld dafür zu bezahlen? Dies sind Fragen, deren Antwort Milliarden bewegen werden. Oder in den Worten Steven Millers (Mass Networks Inc.): Die stärkste Antriebskraft der künftigen Entwicklung des Internet sei „privat money searching profit“. Die US-Companies haben die Stafette von Al Gore übernommen und machen aus dem Netz einen gigantischen Markt für „soft- goods“. Herbert Schiller (San Diego) beschrieb diese Entwicklung als neue wie geheime Offensive, die Welt dem globalen Markt weniger Multis zu unterwerfen. Jede „free-net“-Initiative sei zwar gut gemeint, aber von grenzenloser Naivität angesichts der „economic forces in existing“. Das Internet als Markt, so Benjamin Barber, sei vom Internet als Medium der Demokratie zu unterscheiden. Die Interessen der Konsumenten sind nicht identisch mit denen der Bürger.

Ob das Netz mehr Bürger zur aktiven politischen Partizipation motiviert, hänge primär vom Umbau der politischen Institutionen ab, nicht von der Verbesserung der Technologien. Von diesem Primat der Politik vor der vermeintlichen Emergenz der Technologien geht auch der Verwaltungswissenschaftler J. J. Hesse (Oxford) aus, der allerdings die Bürokratien für derart verkrustet und Regierungs- und Verwaltungsreformen in Deutschland für so unwahrscheinlich hält, daß Struktureffekte auch von der flexibelsten und schnellsten Technik nicht zu erwarten seien.

Wer Angst vor schnellen Veränderungen hat, sei beruhigt. Der vor dem Terminal träumende Beamte wäre wohl ein neues Motiv für Toms Touché, aber kein neues Thema. (Mehr dazu im Netz unter http//:www.akademie3000.de)