Plakette gegen das Verdrängen

52 Jahre dauerte es, bis die französischen Behörden der KZ-Überlebenden Sarah Yalibez erlaubten, an ihre ermordete Familie zu erinnern  ■ Aus Paris Alex Duval Smit

Alles Nazigold der Welt ist Sarah Yalibez nicht so viel wert wie diese Marmorplatte. Sie steht auf einem Podest in einem kleinen Park in einer gepflasterten Gasse in dem Pariser Viertel Marais. Die Platte in der Rue Eginhard Nummer 4 ist eine Erinnerung an den Tod von Sarah Yalibez' Vater und ihrer drei Brüder in Auschwitz- Birkenau. Und sie markiert zugleich den 52jährigen Kampf der Überlebenden für die Erinnerung. Sarah Yalibez wollte Frankreich überzeugen, daß die Opfer der kollaborierenden Polizisten des Vichy-Regimes keine „unbekannten Märtyrer“ waren.

„Ich möchte, daß Massen von Touristen, ganze Busladungen, kommen und diesen Ort sehen. Und ich möchte, daß er in allen Stadtführern erscheint“, sagt die 69jährige. Sie hat als einziges Familienmitglied das KZ überlebt, wohin sie am 1. Mai 1944 mit ihrem Vater, dem Antiquitätenhändler Elias Zajdner, und ihren drei Brüdern Albert, Salomon und Bernard deportiert worden war.

Eigentlich müßte jedes Haus in dieser einstigen Arbeitergegend, die von ihren jiddisch sprechenden Bewohnern Pletzl genannt wurde, einen Gedenkstein bekommen. Aber in dem heute bürgerlichen Quartier gleich hinter dem Pariser Rathaus erinnert heute nur die Platte von Frau Yalibez namentlich an die 75.000 Juden, die aus Frankreich deportiert wurden. Marschall Petain wollte das Pletzl, das die Behörden in der Kriegszeit „ilôt 16“ nannten, ausradieren und an seiner Stelle ein putziges französisches Dorf errichten.

In ihrem Nachkriegskampf ging Frau Yalibez gegen zwei Ressentiments an: gegen das Verdrängen und gegen die Leute, die immer noch finden, daß der Chef des Vichy-Regimes, Petain, die richtige Idee hatte. „Ich habe mir nie gestattet, meine Kampagne abzubrechen“, sagt sie. „Seit dem Tag, da ich aus Auschwitz zurückkam. Das war der 20. Mai 1945; ich war in Decken und ein paar alte deutsche Fliegerstiefel gehüllt.“

Sie hat einen Brief nach dem anderen geschrieben – an Präsidenten, Premierminister, Präfekten und an alle Bürgermeister von Paris. „Ich habe einfach immer weitergemacht. Egal wie negativ die Antworten ausfielen“, erinnert sich Frau Yalibez. „Die Behörden waren eifrig dabei zu vergessen, daß die französische Regierung von Vichy Vorteile aus den antisemitischen Gesetzen und aus der ,Säuberung‘ dieses wertvollen Stücks Boden im Zentrum von Paris zog.“

Im Jahr 1995 nahm Sarah Yalibez an der Zeremonie am Memorial für den unbekannten jüdischen Märtyrer in Marais teil. Sie stand in unmittelbarer Nähe von Jacques Chirac, der noch nicht französischer Präsident, aber immerhin Bürgermeister von Paris war, und sie starrte ihn einfach ununterbrochen an. Am Ende der Zeremonie fragte Chirac die Frau, was los sei. Ein paar Monate später wurde er der erste französische Staatschef, der eine „unentrinnbare Schuld“ der Führer von Vichy anerkannte.

Der Brief an Sarah Yalibez kam per Post. „Darin stand, daß ich eine Gedenkplatte in der Größe eines Straßenschildes haben könnte. Und daß sie nicht auf öffentlichem Straßenland stehen dürfe“, erinnert sie sich. „Ich sagte dem Architekten, daß ich eine 60 Quadratzentimeter große Plakette bräuchte. Ich brauchte Platz, um den Namen meines Vaters, den meines älteren Bruders und die der Zwillinge unterzubringen, die in die Hände von Dr. Mengele geraten waren.“

Im vergangenen Monat hat Frau Yalibez einen eigenen Schlüssel für das Tor an der Rue Eginhard Nummer 4 bekommen. Das Grundstück, auf dem einst das fünfstöckige Gebäude stand, in dem Vater Zajdner seine Antiquitäten verkaufte, gehört der Stadt Paris. Sie hat einen kleinen, abgeschlossenen Park daraus gemacht. Sarah Yalibez, die nach dem Krieg einen Mann heiratete, den sie im Mai 1944 im Durchgangslager Drancy kennengelernt hatte, verpflichtete sich, den Garten und die Plakette zu pflegen.

„Wir waren Mieter, und deswegen haben wir kein Anrecht auf Entschädigung für Grund und Boden. Aber das ist mir ohnehin nicht wichtig“, sagt sie. „Mein Lebenswerk war es, Frankreich aus dem Verdrängen herauszubringen. Das beginnt jetzt, weil wir Überlebenden es endlich geschafft haben, die Mauer zu durchbrechen. Die Mauer in uns selbst, die verhinderte, daß wir über die Lager sprechen.“

Die Autorin ist Frankreich-Korrespondentin des britischen „Guardian“.