Ausmaß der Hehlerei ist unklar

Die Debatte über die Entschädigung überlebender Juden in Schweden, Frankreich und der Schweiz offenbart einen Generationenwechsel  ■ Aus Paris Alfred Grosser

Geld und Gold in den Schweizer Banken; Schwedens Kumpanei mit Hitler; jüdischer Besitz, im besetzten Frankreich beschlagnahmt, vom französischen Staat nach dem Krieg behalten – warum erst heute die öffentliche Debatte? Der Fall Schweden ist am leichtesten zu erklären. Die späte Gewissensprüfung ist nun entstanden, weil der Vergleich mit dem anderen „neutralen“ Land kaum vermieden werden konnte. Ich schreibe neutral in Anführungszeichen, weil ich vor langer Zeit das 1969 erschienene Buch „Present at the Creation“ des ehemaligen US-Außenministers Dean Acheson gelesen habe. Er schildert mit herber Ironie, wie die Schweiz und Schweden erst wirklich neutral wurden, als Hitlers Niederlage besiegelt war.

In der Schweiz verstärken sich heute zwei an sich getrennte Entwicklungen gegenseitig. Zum einen ist da die Beschleunigung der selbstkritischen Betrachtung der eigenen Vergangenheit. Vor zwei Jahren hat endlich ein Gericht zugegeben, daß Paul Grüninger – der Beamte, der Hunderte von Juden durch Verletzung seiner Dienstpflicht gerettet hatte – zu Unrecht ohne Entschädigung und Pensionsanspruch aus dem öffentlichen Dienst verstoßen worden war. Und der Schweizer Bundespräsident hat letztes Jahr zum erstenmal von Schuld gesprochen.

Welcher Zorn bei meinem Schweizer Publikum, wenn ich das Wort Hehlerei in meinen Reden verwendete! Der Zürcher Polizeipräfekt drohte mir in den siebziger Jahren mit Ausweisung, wenn ich noch einmal so provozierend von der Kriegsperiode sprechen würde. Wenn ein Schweizer Autor die Wirklichkeit beschrieb, sei es im Buch („Du bonheur d'etre Suisse sous Hitler“ – „Vom Glück unter Hitler Schweizer zu sein“) oder im Film („Das Boot ist voll“), so wurde er wie ein Aussätziger behandelt. Ebenfalls in den 70ern schrieb mir der Vorsitzende der Zürcher israelitischen Gemeinde, er hätte mich nicht eingeladen, wenn er gewußt hätte, was ich sagen würde. Nämlich, daß die heute ihres Judentums sehr bewußte Gemeinde sich während des Krieges so prioritär als Schweizer empfunden hatte, daß sie die deutschen Juden nicht verteidigte, als die Regierung der Schweiz von Deutschland den J-Stempel in den jüdischen Pässen verlangte, um die Grenze gegen die Verfolgten abzusichern.

Die Vergangenheitsbewältigung hat Fortschritte gemacht. Und nun ist der Druck des US-Senats auf die Schweizer Banken dazugekommen. Das Ausmaß der Hehlerei ist unklar, die Hehlerei selbst wird zögernd eingestanden.

In Frankreich kommen die Enthüllungen über den nicht zurückgegebenen Besitz auch gewissermaßen als Zusatz zur Aufklärung über die Vergangenheit. Diese Aufklärung war dabei, sich durchzusetzen. Als Alain Resnais „Nacht und Nebel“ drehte, mußte er noch die Szene mit dem französischen Gendarmen rausschneiden, da sie bewies, daß ein Übergangslager von Franzosen eingerichtet und verwaltet worden war.

In den siebziger Jahren noch wurde vergeblich gekämpft, um einen ergreifenden Film ins Fernsehen zu bringen („Les guichets du Louvre“). Er zeigte, wie sich Juden verhaften ließen, weil die Razzia von biederen, wohlbekannten und vertrauenswürdigen französischen Polizisten durchgeführt wurde. Vor 30 Jahren waren noch manche meiner Zuhörer empört, wenn ich, beim Unterricht für höhere Polizeibeamte, bekannte, daß für mich die Verleihung einer kollektiven Ehrenlegion an die Pariser Polizei bei der Befreiung von Paris ein Skandal war – nach so viel Unterwürfigkeit vor der Besatzungsmacht. Heute teilt mein Publikum diese Empörung. Aber wenn nicht die Frage nach dem Geld in den Schweizer Banken gestellt worden wäre, so hätten die jüngsten Enthüllungen nicht stattgefunden.

Ist es nur eine Frage der Zeit, des Generationenwechsels? Zum Teil gewiß. Es ist kein Zufall, daß etwa Maurice Papon, der zwischen 1942 und 1944 „Verantwortliche für Judenfragen“ bei der Präfektur in Bordeaux – der jetzt wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor ein französisches Gericht kommt –, lediglich deswegen als kriminell erscheint, weil er am Judenmord beteiligt gewesen ist und nicht, weil er 1961 als Polizeipräfekt von Paris den Totschlag durch die Polizei von Hunderten von friedlich demonstrierenden Algeriern vielleicht befohlen hat; die Vergangenheit des Algerienkriegs ist noch nicht bewältigt!

Aber es kommt noch etwas Wesentliches hinzu. Nach 1945 wurde von den jüdischen Opfern kaum gesprochen, u. a. weil die Kommunistische Partei einflußreich und damals auf antisemitischer Linie festgelegt war. Und man sprach viel von Buchenwald und Dachau, wenig von Auschwitz. Während der achtziger Jahre hat sich das Rad gedreht. Manchmal könnte man glauben, es habe nur jüdische Opfer Hitlers gegeben. Genau diesem auch wirklichkeitsverzerrenden Pendelschlag entspricht das Buch von Daniel Goldhagen. Allerdings zeigt der Erfolg seines Buches, daß ein besonders deutsches Phänomen noch nicht überwunden ist. Jede Generation glaubt, sie sei die erste, die Vergangenheitsbewältigung im besten Sinne treibe. Die Bundesrepublik hat mehr und Wertvolleres geleistet als jedes andere Land: von der „kollektiven Scham“ von Theodor Heuss 1949 Über die Reden von Walter Scheel zum 8. Mai 1975, von Helmut Kohl in Bergen-Belsen und Richard von Weizsäcker zum 8. Mai 1986 bis hin zum bescheidenen, von jüdischer Seite freundschaftlich begrüßten Auftreten Roman Herzogs am Tor von Auschwitz-Birkenau zum 50. Jahrestag der Befreiung des Lagers.

Allerdings wird heute eine Problematik neu aufgegriffen, die immer stillschweigend beiseite geschoben worden war: die der Entschädigung der Opfer. Sie ist wichtig geworden, weil überall die Frage nach dem Privateigentum in den Vordergrund geschoben wird. Das begann mit dem „Rückerstattung geht vor Entschädigung“ bei der Wiedervereinigung und wird fortgeführt mit der Problematik des ehemaligen Besitztums der Vertriebenen aus dem Sudetenland. Jeder muß sich da fragen, mit welcher Berechtigung hier ein „Schlußstrich“ gefordert wird und dort nicht.

Der in Paris lebende Autor ist emeritierter Professor für Germanistik und Politologie.