An der Pulsader des Krieges

Die Bewohner von Kisangani in Zaire leben zwischen ruandischen Flüchtlingen, Soldaten und ignoranten Hilfsorganisationen  ■ Aus Kisangani Oliver Meisenberg

Was hat der zehnjährige Junge Safari mit dem Krieg in Zaire zu tun? Eigentlich gar nichts. Er hatte nur das Pech, wie viele andere Kinder im ostzairischen Goma gerade aus der Schule zu kommen, als der Flüchtlingsstrom sich in Bewegung setzte und er ohne seine Eltern mitgezogen wurde. Nun sitzt er 900 Kilometer weiter westlich in Kisangani, der drittgrößten Stadt Zaires – einer von etwa 30.000 Vertriebenen, die vor dem Krieg zwischen der Regierung und den Rebellen der Allianz demokratischer Kräfte zur Befreiung von Kongo-Zaire (AFDL) geflohen sind. Wie ist er hierhergekommen? „Zu Fuß“, antwortet er.

Kisangani, umgeben vom dichten zentralafrikanischen Regenwald, ist der strategische Mittelpunkt des Krieges, denn von Kisangani aus führt Zaires Armee ihren Kampf gegen die vorrückenden AFDL-Rebellen. Die Menschen in Kisangani wissen, daß sie an der Pulsader des Krieges leben. Sonst wissen sie vom Verlauf der Kämpfe nichts. Selbst höhere Militärs beziehen ihre Nachrichten aus der BBC.

Das einzige, was die Menschen in Kisangani mitbekommen, sind die vielen neuen Soldaten und Waffen in der Stadt. Konnte man noch im Dezember das traurige Bild beobachten, wie Soldaten ihre Waffen auf Handkarren durch die Straßen fahren, landen inzwischen fast täglich Flugzeuge voller Waffen, zum Beispiel von der Occidental Airlines aus dem belgischen Ostende. Die Armee fährt in Mercedes-Unimogs herum, deren gelbe Scheinwerfer nach französischem Modell die Herkunft geradezu herausschreien und deren ehemalige Nummernschilder nur notdürftig mit einem roten Strich übermalt sind.

Autos aus Frankreich – Soldaten von überall

Auch sind die sieben Hubschrauber, die morgens über der Stadt kreisen, nicht zu überhören – besonders die drei MI-24 nicht, die von ukrainischen Piloten geflogen werden. Begleitet werden diese Geräusche tagsüber von denen vierer Kampfflugzeuge aus Italien und Jugoslawien. Dazu fahren Serben, Kroaten, Bosnier, Franzosen, Belgier und Südafrikaner offen in der Stadt herum, gekleidet in Uniformen der zairischen Armee.

Die Bevölkerung steht dieser bunten Mischung ratlos gegenüber. Sie hat Angst – vor dem eigenen Militär und vor der Ungewißheit namens Laurent Kabila, Führer der Rebellen, von dem sie bis vor wenigen Monaten nie etwas gehört haben. „Hoffentlich kommt Kabila bald, so daß wir uns von diesem Mobutu-System befreien können“, sagt der Kneipeninhaber Justain. „Warum Kabila?“ wirft ihm Stammgast Silvain entgegen. „Demokratie wollen wir und keinen Bürgerkrieg. Wo war Kabila bei der Nationalkonferenz?“ Die Nationalkonferenz von 1991 war ein Versuch der zairischen Demokratiebewegung, das Mobutu-Regime durch eine neue Regierungsform abzulösen, ging aber an Mobutus Spaltungsmanövern kaputt. „Stimmt“, wirft ein anderer Gast namens Donné ein. „Kabila hat alles kaputtgemacht. Jetzt finden wieder keine Wahlen statt, weil wir uns im Bürgerkrieg befinden, und Mobutu wird bleiben.“

Mirindi sitzt traurig in der Ecke. Seine Frau und seine Kinder sind noch in Bukavu oder sonstwo in Ostzaire, und er hat keinerlei Nachricht von ihnen. Warum er geflohen ist, wird er gefragt, Kabila tue doch niemandem etwas. „Was sollte ich denn machen?“ antwortet er. „Der Einzug der Rebellen war begleitet von einem heftigen Beschuß aus Ruanda. Wir dachten, die Ruander nehmen uns ein, und da bin ich nach Hause gegangen, um meine Familie zu holen, doch sie war nicht mehr da.“

Es wird spät. Ab sechs Uhr abends macht sich jeder schnellstens auf den Heimweg, denn ab 19 Uhr ist Sperrstunde. Die Ausgangssperre richtete der Gouverneur kurz vor Weihnachten ein, um Infiltrationen der Rebellen zu vermeiden. Vielleicht hatte er aber auch nur Angst, vom Militär abgesetzt zu werden, und wollte zeigen, daß er die Situation voll unter Kontrolle hat.

Das größte Problem für die Menschen in Kisangani ist das tägliche Überleben. Die Stadt versorgte sich immer aus dem Umland mit Lebensmitteln. Aus dem Osten Zaires kommt wegen des Bürgerkrieges nichts mehr. Auch aus der Hauptstadt Kinshasa im Westen fahren die Flußboote nach Kisangani nicht mehr, da sie nicht wissen, ob Kisangani noch in Regierungshand ist, wenn sie zwei Wochen später ankommen. Zur Lebensmittelknappheit kommt die enorme Last der Kriegsflüchtlinge aus Ostzaire. Die Preise steigen fast täglich.

Da die zairischen Kriegsflüchtlinge in ihrem eigenen Land geblieben sind, fallen sie nicht unter das Flüchtlingsmandat der UNO. Keiner kümmert sich um sie. Viele internationale Hilfsorganisationen benutzen Kisangani nur als Sprungbrett zur Versorgung der ruandischen Hutu-Flüchtlinge, die noch in der Region leben. Sie flohen vor den Rebellen aus der ostzairischen Provinz Kivu Richtung Kisangani und leben nun, 250 Kilometer von Kisangani entfernt, nahe der Front. Da sollen sie nach dem Willen der Zairer auch bleiben. „Wir werden kein zweites Kivu hier“, sagt der Gouverneur.

Kein Mandat, den Einheimischen zu helfen

Die Anwesenheit von über einer Million Flüchtlingen aus Ruanda war auch einer der Gründe für die Spannungen in Ostzaire, die zum Bürgerkrieg führten. Jede Hilfsorganisation, die auf sich hielt, begab sich alsbald nach Zaire, um sich den Flüchtlingen zu widmen. Für die einheimische Bevölkerung interessierte sich niemand. Aber sie erwartete das auch nicht, denn die Zairer wußten damals nicht, daß es eine Hilfsmaschine ohne Grenzen „mit großen Fahnen auf den Fahrzeugen“ gibt.

Böses Blut gab es erst nach gewissen Geschehnissen wie zum Beispiel Ende 1994, als heftige Regenfälle einen Teil des Slumviertels Kadutu im ostzairischen Bukavu wegschwemmten. Die ruandischen Flüchtlinge bekamen damals massenweise Plastikplanen, um Lager zu bauen. Keine Organisation kam auf die Idee, den obdachlos gewordenen Zairern welche abzugeben. Statt dessen konnte man sich abends in den Kneipen die Geschichten von Mitarbeitern von Hilfsorganisationen anhören, wie sie Zeuge wurden, als die Leichen aus Kadutu den Fluß hinunterschwammen. Auf die Frage, wieso sie da nicht helfen, hieß es, das falle nicht in ihr Mandat.

Die Flüchtlinge erhielten Lebensmittel und medizinische Versorgung umsonst und lagen manchmal im gleichen Krankenhaus wie Zairer, die dafür hart arbeiten mußten. Die Ruander übernahmen wachsende Teile des Handels und verdrängten die Zairer vom Markt. Die Geschäftsgegend von Bukavu hieß im zairischen Volksmund bald „Klein-Kigali“, nach der Hauptstadt Ruandas. Auf dem Lande plünderten Flüchtlinge Felder und vergewaltigten Frauen. Aus einheimischen Widerstandsbewegungen gegen die Flüchtlinge entstanden Milizen, die dann auch an der Ausbreitung der Rebellion von 1996 beteiligt waren.

Der Zustand der letzten 150.000 ruandischen Flüchtlinge im Lager Tingi-Tingi, 250 Kilometer von Kisangani entfernt, ist miserabel. In den ersten drei Wochen des Januar brachte das UN-Welternährungsprogramm WFP gerade 3,5 Kilogramm Lebensmittel pro Person hierher. Der größte Teil kam per Luftbrücke – eine sehr teure Aktion. Aber die Straße ist auf einem etwa zwölf Kilometer langen Teilstück, 80 Kilometer außerhalb von Kisangani, in einem sehr schlechten Zustand. Das Problem und die Studie zur Ausbesserung hat das WFP seit Dezember auf dem Tisch. Gemacht wird nichts. Wenn die Regenzeit aussetzt und überhaupt keine Lastwagen mehr durchkommen, wird der Lufttransport noch teurer. Schon jetzt mietet das WFP die Flugzeuge von einer zairischen Privatfirma. Die Armee mietet ihre Flugzeuge von derselben Firma und hat Vorrang.

Die Flüchtlinge könnten auch an einen weniger unzugänglichen Ort kommen – zum Beispiel Kisangani selber. Aber aufgrund der schlechten Erfahrungen von 1994 bis 1996 in Ostzaire wollen die Behörden das nicht. Kein ruandischer Flüchtling soll Kisangani erreichen, damit aus der Stadt nicht ein zweites Goma oder Bukavu wird. Die Behörden hoffen eher, daß das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR sich jetzt bald endlich, wie versprochen, auch um die bereits vorhandenen zairischen Flüchtlinge in Kisangani kümmert.

Die Organisationen, die das bereits tun, sehen sich mit erheblichen Problemen konfrontiert. „Ich werde noch wahnsinnig“, sagt der Leiter des nationalen Roten Kreuzes, Oaul Lifeto, im „Site H“, einem Lager in Kisangani. „In Bukavu haben wir ein Lager mit 60.000 Flüchtlingen gemanagt, und hier haben wir mit 3.500 nur Probleme. Die Menschen sind mit der Nahrungsration nicht zufrieden, wollen uns ihre Krankenschwestern aufzwingen und diktieren, wieviel Medikamente wir zu verteilen haben.“ Dies sind Menschen aus Ostzaire, die zwei Jahre lang mitansahen, wie die ruandischen Flüchtlinge von oben bis unten bedient wurden, und nun nach einem Fußmarsch von 800 Kilometern mindestens die dreifache Fürsorge erwarten. In Ostzaire stellten die Hilfsorganisationen meist Ruander ein, zum Nachteil der Einheimischen, die nun endlich auch ihre Arbeitskraft gegen Bezahlung zur Verfügung stellen wollen – das aber paßt den Behörden in Kisangani nicht. Sie wollen, daß Leute aus Kisangani die Arbeitsplätze bekommen.

Gemischte Gefühle vor der Ankunft des UNHCR

Die bevorstehende Ankunft des UNHCR in Kisangani wird mit gemischten Gefühlen diskutiert. Daß das UNHCR in Goma und Bukavu seinen Fahrern 600 Dollar im Monat zahlte – das dreißigfache Gehalt eines zairischen Universitätsprofessors –, hat sich längst herumgesprochen. Allerdings wiegt das Mißtrauen gegen die UNO schwerer. Zairer werfen der UNO vor, die Rebellen unterstützt zu haben. Diese Anschuldigung kommt vor allem aus der zairischen Präsidialgarde DSP. Es ist schwer vorstellbar, daß die UNO im zairischen Bürgerkrieg Partei ergreift, doch ist nicht auszuschließen, daß Individuen innerhalb der UNO ihre Stellung zu eigenen Zwecken nutzen. So benutzte zum Beispiel die burundische Hutu-Rebellenorganisation CNDD in Bukavu die Kurierpost und das Fax des UNHCR für Waffenbestellungen. Führende afrikanische UN-Angestellte stellten ihre Infrastruktur und Kontakte den zairischen Rebellen zur Verfügung.

Die einst blühende Stadt Kisangani gibt es nicht mehr. Jeder, der etwas auf sich hält, wird Evangelist und baut neben der allmächtigen katholischen Kirche eine eigene Gemeinde auf, von der er gut leben kann. Die Menschen gehen in den Gottesdienst, um ein paar Stunden vor dem Chaos in ein funktionierendes System der Ordnung zu entfliehen. Aber bei den Plünderungen kleinerer Städte wie Isiro, Amadi, Dungu oder Poko durch zurückweichende Soldaten erging es den Geistlichen am schlimmsten. Sie wurden nicht nur vom Militär geplündert, sondern auch von ihren eigenen Mitarbeitern. „Man kann eigentlich sagen, daß unsere ganze Arbeit für nichts und wieder nichts war, wenn man sich anschaut, was da passiert ist“, sagt Mathias von den Weißen Vätern. Nachdenklich zeigt er in der alten Kapelle auf Bilder von Missionaren, die beim letzten Aufstand in den 60er Jahren in Kisangani umgebracht wurden. „Wir sitzen auf einem Pulverfaß.“