■ Bei der Diskussion um die Rentenfinanzierung geht es in Wahrheit um einen Krieg der Jüngeren gegen die Alten
: Das Prinzip Eisscholle

Alt werden hieß schon immer, alles an die Nachgeborenen übergeben, abtreten müssen, schwach und hilflos werden, sterben. Ein schwerer Weg. Gut behandelt wurden Alte noch nie. Biedermeierliche Idyllen von den rücksichtsvoll umsorgten Alten im Kreis ihrer Lieben versuchen das zu verschleiern. Im Normalfall sind Alte im Weg, sitzen auf ihrem Erbe, sind von aller Welt verlassen, brauchen Pflege und kosten immer viel zu viel Zeit und Geld. Wer aus dem Berufsleben verschwindet, wird schnell vergessen. Das ist die eiserne Logik der Arbeitsgesellschaft. Und lange bevor sie ganz verschwunden sind, werden die Alten nicht mehr gebraucht und gefragt schon gar nicht.

So zerbrechen viele Alte am willkürlich festgesetzten Verrentungsdatum, das sich kaum nach ihren Fähigkeiten und Bedürfnissen richtet, sie schwächen sich selbst mit dem selbstzerstörerischen Satz „Dafür bin ich zu alt“ und lassen sich in Bastelgruppen infantilisieren. Daß es einzelne Alte, Weise, Künstler und Elder statesmen gibt, deren Meinung bis ins hohe Alter gefragt ist, ändert daran nichts.

Äneas, der seinen alten Vater Anchises in einem Korb aus dem brennenden Troja trägt und zur Gründung Roms nach Italien mitnimmt, ist wohl ebenso wie das vierte Gebot: „Du sollst Vater und Mutter ehren“ als Versuch zu verstehen, der alltäglichen Brutalität gegenüber den Alten, mit Mythos und Moral zu Leibe zu rücken. Ohne allzu großen Erfolg. Dies setzt sich bis ins Heute fort. Schon der böse Begriff von der „Altenschwemme“ zeigt, wie stark im Kampf der Generationen archaische Muster weiterwirken.

Bei den Innuit-Völkern regelten die Alten jahrhundertelang ihr Ende selbst. War die Jagd schlecht und ihre Zeit gekommen, verschwanden die Alten im Eis. Auf einer Eisscholle ausgesetzt, fuhren sie für immer davon. Und dieses Prinzip Eisscholle: „Entweder ihr tretet freiwillig ab oder wir helfen dabei nach“, taucht, ohne größere Aufregung zu verursachen, in unseren Debatten über die Renten oder das Gesundheitswesen auf.

In den Fachdebatten um Rentenfinanzierung und soziale Sicherungssysteme im Alter bestimmen ausgeklügelte Formeln die Positionen, voll von dröhnender Kompetenz und so kompliziert, daß kaum jemand sie nachvollziehen kann. Aber bei diesen Debatten um Rentenkürzungen, Rentensteuern und Steuern auf Lebensversicherungen, Pflegestufen und Rationierung von möglicher medizinischer Hilfe für Alte wegen zu hoher Kosten geht es in Wahrheit um die Drohung mit der Eisscholle. In dieses Bild paßt auch die zunehmende Gewalt gegen Alte in Familien und öffentlichen Einrichtungen. Wenn nun Jugendliche und Jungpolitiker unter der Parole: „Die viel zu vielen Alten verfressen uns unsere Zukunft“ offen zum Generationskrieg aufrufen, dann argumentieren sie aus einer frechen Position der Stärke der Jugend. Und gießen womöglich Öl ins Feuer. Denn wehren können sich die Alten kaum. Es ist nicht ganz ohne Ironie, daß gerade die Generationen, die den immer noch wirksamen Jugendkult erfunden haben, nun von ihren Kindern, die diesen Kult für die Wirklichkeit halten, ohne viel Bedenken auf die Eisscholle bugsiert werden.

So wird deutlich, wohin die Reise für die Mehrheit der Alten geht. Die relative Gleichheit, die im Rentenversprechen des Generationsvertrages verankert war, hat in den letzten 40 Jahren Bundesrepublik ein einigermaßen würdevolles und selbstbestimmtes Alter garantiert. Das soll nun vorbeisein; ersetzt durch zunehmende Ungleichheit im Alter. Weil der Sozialstaat seine sozialen Frieden stiftende Funktion aufgibt, kehrt die Angst vor dem Alter in den Alltag jedes einzelnen zurück.

Das Gefeilsche um Rentenstrukturen und Prozente zerstört dabei nicht nur einen Teil unserer sozialen Sicherungssysteme. Es geht um mehr: Der Grundkonsens des staatlich vermittelten Ausgleichs zwischen Kapital und Arbeit im Sozialstaat für das ganze Leben jedes einzelnen in relativer, sozialer Sicherheit wird zur Disposition gestellt.

Gewiß war bisher vieles in der Versorgung der Alten verbürokratisiert, überprofessionalisiert, nicht unbedingt erforderlich und oft viel zu teuer. Im Ganzen betrachtet aber hatten die Alten historisch zum ersten Mal, staatlich garantiert, einen Anspruch auf ihren Weg zum Sterben ohne Angst vor völliger materieller Not. Diese Garantie wird jetzt weiter zurückgenommen, als vorerst zu überblicken ist. Und das wird auch dem politischen Zusammenhalt der Nachgeborenen schaden. Denn die demokratische Kultur der Bundesrepublik ist an den ausgleichenden Gedanken minimaler Gerechtigkeit im Sozialstaat gebunden.

Die Jugendlichen, die das demontieren, stellen auch ihre eigene Zukunft in Frage, weil sie unsere Gesellschaft für rücksichtslose Brutalität untereinander öffnen. Der Sohn, der seinen Vater schlägt, die Tochter, die ihm das Essen verweigert, die Alten, die von Hundefutter leben und monatelang tot in ihren Wohnungen liegen – all das beschädigt auch die Demokratie. Daß die Demokratie dabei nicht untergehen muß, weil sie auch mit großer Unmenschlichkeit leben kann, gehört zu ihrem Prinzip. Ich will auch keineswegs die alte Formel wiederbeleben, daß Demokratie nur dann existieren könne, wenn alle gleiche soziale Chancen und Rechte hätten. Das ist durch den Terror aller sozialistischen Diktaturen auf Dauer widerlegt.

Die Frage aber, wie Freiheit und Gleichheit so austariert werden, daß möglichst viele einzelne bis zu ihrem letzten Tag in Würde leben können, ist wieder offen. Unter diesem Gesichtspunkt erscheint es mir legitim, die Abgaben für die Rentenversicherung der Alten per Gesetz auch auf 25 Prozent zu erhöhen. Denn wenn in den nächsten 30 Jahren die Zahl der Alten, die versorgt werden müssen, rapide steigt, müssen wir vorsorgen.

Diese Grundsatzentscheidung schließt das Streichen überzogener Ansprüche, Anpassungen des Rentenniveaus, eine Neuorganisation mit höherer Selbstverantwortung jedes einzelnen, eine andere Verteilung der Abgaben zwischen Unternehmern und Arbeitnehmern sowie einen breiten privaten Markt spezieller Dienstleistungen für Alte nicht aus. Im Gegenteil, hier gibt es ein breites Feld für Arbeitsplätze, das bis heute kaum genutzt wird.

Voraussetzung für solche Korrekturen aber ist es, die direkte Verantwortung der Jungen für die Alten zu erhalten. Die Alternative zu diesem Weg ist für die Mehrheit unserer Alten die Eisscholle. Udo Knapp