Der Antirassismus der Sonntagsredner Von Christiane Grefe

„..unsere weitverbreitete Neigung, Ausländer an sich für großartig zu halten...“

Arnulf Baring in „focus“

In vielen Familien ist es das Thema. Viele Eltern aber haben es ihren Söhnen und Töchtern auch noch gar nicht erzählt. Die Überbringer schieben die Nachricht hinaus, weil sie sich, so wie Semsa Güngör, „vor den eigenen Kindern schämen“: „Mein Mädchen geht hier zur Schule“, sagt die Erzieherin beim Tee mit anderen Ausländerinnen im Münchener Westend, „diese Stadt ist ihre Heimat, seit sie auf der Welt ist. Und jetzt soll ich ihr auf einmal erklären: Meine Kleine, du bist aber ganz anders und gehörst eigentlich doch nicht hierher?“

Du brauchst jetzt eine Aufenthaltsgenehmigung, so hieße die Nachricht unkommentiert, und ein Einreisevisum jedesmal, wenn wir wegfahren – eine ausländerrechtliche Amtsbehandlung, zu der Bundesinnenminister Kanther Mitte Januar alle Kinder aus Nicht-EU- Staaten verpflichtet hat. Die „Eilverordnung“, die voraussichtlich am 14. März noch durch den Bundesrat muß, solle automatisch und unbürokratisch umgesetzt werden, versprach der Minister. Doch die Frauen im Westend tauschen ganz andere, verunsichernde Erfahrungen aus: „Der Sohn unserer Nachbarin hat nur vier Jahre gekriegt“, erzählt eine, „obwohl seine Eltern schon lange die Aufenthaltsberechtigung haben!“ Eine andere weiß von einem Neugeborenen, dessen Stempel bloß ein einziges Jahr lang gelten soll. Und eine kaufmännische Angestellte, bald 30 Jahre hier, hat gerade mit ihrer Nichte in Istanbul telefoniert: „Die hängt jetzt schon den zweiten Tag auf dem Konsulat und hofft, noch rechtzeitig nach Hause zurückzukommen.“ Mißtrauisch, zornig fragen die Frauen: „Warum?“

Denn kaum glaubwürdig ist Kanthers Begründung, er wolle Schleppern das Handwerk legen und Einreisemißbrauch an den Grenzen verhindern: Tatsächlich beleben Visaverschärfungen eher dieses Geschäft. Der größte Teil der 2.000 Alleinreisenden unter 16 Jahren kam im letzten Jahr zudem ganz normal auf Verwandtenbesuch – also weder im Schleppertau noch als Flüchtling. Und einen Asylantrag stellten ganze 353 Kinder, darunter traurige, von UN- Konventionen geschützte „Fälle“ aus Kriegsgebieten. Wegen dieser „dramatischen Zahlen“ sollen jetzt die Eltern von rund 700.000 betroffenen Minderjährigen immer wieder aufs Amt?

„Die wollen uns wieder mal zu spüren geben, daß wir Ausländer sind und bleiben“ – dieser Verdacht ist bei der Frauenteestunde Konsens. Und auch dieser: „Über die Kinder wollen sie wohl die arbeitslosen Eltern aus dem Land kriegen.“ Da sitzt etwa eine Mutter von dreien, selbst in Deutschland geboren und gerade geschieden, und traut sich nicht aufs Ausländeramt, denn sie ahnt schon die Fragen: „Wie groß ist Ihr Wohnraum?“ „Sind Sie arbeitslos?“ „Sozialhilfeempfängerin?“ Wird man sie, einen Kostenfaktor, also noch hier tolerieren? Die Kinder? Aber wo sollen sie sonst hin? Semsa Güngör befürchtet: „Die Ausländer, die gut dran sind, dürfen bleiben. Aber die schlecht dran sind, sollen weg.“

Gern würde man solche Ängste als hysterisch abtun. Doch sind sie nicht nachvollziehbar in einem „demokratischen“ Klima, in dem Minderheiten handstreichartig und ohne Konsultation regelrecht übertölpelt werden? In dem die CSU Beschäftigungsmoratorien für Nichtdeutsche zwar am Ende verwirft, aber doch lautstark diskutiert? Wo selbst Gewerkschafter ähnliche Ausgrenzungs-Testballons steigen lassen? Und auch der Bundeskanzler schwadroniert, es sei absurd, daß auf dem deutschen Arbeitsmarkt viele Tätigkeiten nur von Ausländern übernommen würden, während vier Millionen Deutsche keine Beschäftigung fänden. Ob er will oder nicht, die Botschaft kommt als Ressentiment, als sozialer Sprengstoff an: Nichteuropäer unerwünscht.

Tatsächlich findet es der Bundeskanzler ja durchaus nett, wenn er unter den christlichen Sternsängern in der Pfalz auch mal ein Ausländergesicht erblickt, und Wolfgang Schäuble erzählt gern vom Türkenjungen im Tennisverein. Doch ähnliche Rührung fehlt angesichts deutscher Kinder, die im umgekehrten kulturellen Austausch ganz alltäglich auch schon mal mit Kurden im Ramadan fasten. Das veraltete Koalitionsweltbild kennt eben nur die „guten“ Angepaßten – Multikultur hingegen gilt als linke Erfindung, und Deutschland darf kein Einwanderungsland sein, auch wenn es das schlicht und ergreifend längst ist. Diese Blindheit ist es wohl, die die politische Sensibilität für die Situation der dritten und vierten Einwanderergeneration verstellt: dafür, was es bedeutet, wenn man den Kindern und Jugendlichen ihre individuell gebastelten, manchmal brüchigen, aber reichen Identitäten immer wieder erschüttert, statt sie in dieser Gesellschaft willkommen zu heißen. „Münchner Marokkaner“, so beschreiben sich Immigrantenkinder. Oder: „Nur meine Eltern sind Ausländer“. Oder so: „Ich bin Inländer. Aber Türke.“ Und nun nehmen sie ihnen den Inländer – aber schriftlich! – einfach weg, und viele ziehen sich frustriert in Kreise zurück, die ihre „eigenen“ sonst gar nicht wären – auch in fundamentalistische, womöglich aggressive.

Fängt also gut an, das „Europäische Jahr gegen Rassismus“, das Bundespräsident Roman Herzog am Dienstag in Berlin offiziell eröffnet. Viele wichtige Seminare und Ausstellungen wird es da geben, von der „Interkulturellen Erziehung“ bis zu „Rechtsextremismus und Jugendgewalt“. Doch während sich – „Rassismus? Find' ich schlecht!“ – auf der akademischen Ebene mit all dem wohl jeder, auch das koordinierende Innenministerium, identifizieren kann, kommt die politische Praxis der Integration nicht voran.

Und das paradoxerweise, obwohl ein neues Staatsbürgerschaftsrecht längst mehrheitsfähig wäre. Auch manche Teile der CDU sind inzwischen dafür, und die erleichterte Einbürgerung für in Deutschland geborene Kinder hatte sogar die Bundesregierung beim Amtsantritt versprochen. Daß sie jetzt das genaue Gegenteil praktiziert, wäre also ein gefundenes Fressen für die Opposition. Doch statt sich – gerade im Antirassismusjahr – für das „ius soli“ lautstark ins Zeug zu werfen und die Debatte um Kanthers Erlaß für so eine Gesetzesinitiative zu nutzen, herrscht bei den Sozialdemokraten wieder mal emsige Uneinigkeit. Und von außen kriegen sie auch nicht genug Druck.

Der Status der Einwanderer ist zwar in vielen Familien das Thema – aber kaum in deutschen. Während französische Bürger gegen ein restriktives Ausländergesetz Sturm laufen und Italien einen liberalen Regierungsgesetzesentwurf diskutiert, der die dort lebenden Immigranten vom Zweite- Klasse-Status befreien würde, meldet sich in diesem Teil der Festung Europa auch an dem derzeitigen strategischen Punkt kein Regisseur, kein Intellektueller, kein Hochschulprofessor und kein Schriftsteller zu Wort. Offenbar sind genug Integrations-Engagierte in die „Gutmenschen“- Schublade gesteckt worden – und wer will da schon rein. Macht also weiter eine Minderheit an der Macht Politik – gegen Minderheiten?