Hohe Staatskunst der Grünen

Antje Vollmer hat die grüne Debatte über die Nato-Osterweiterung erneut angestoßen und dabei gleich beide Flügel der Partei verärgert  ■ Von Dieter Rulff

Gleich zweimal hat Bundestagsvizepräsidentin Antje Vollmer in diesen Tagen geharnischte Post aus ihrer Fraktion erhalten. Sie befinde sich „quasi in einem politischen Inhaltsbündnis mit Schäuble“, wurde ihr da per Brief attestiert. Über die „Ununterscheidbarkeit christdemokratischer, sozialdemokratischer und bündnisgrüner Positionen“ lamentierte ein weiteres Schreiben. So einhellig die Vorwürfe, so unterschiedlich sind allerdings die Autoren. Sowohl der linke Bundestagsabgeordnete Ludger Volmer als auch die realpolitischen Fraktionskollegen Helmut Lippelt, Waltraud Schoppe und Gerd Poppe sahen sich veranlaßt, mit ihrer staatspolitischen Frontfrau ins Gericht zu gehen.

Den flügelübergreifenden Ärger hat ein Aufsatz verursacht, den Vollmer für eine Festschrift zum 70. Geburtstag des Ex-Außenministers Hans-Dietrich Genscher verfaßt hat. Darin wird das Hohelied auf dessen Entspannungspolitik während der deutschen Vereinigung gesungen, „welche die Interessen des anderen und seine Handlungsmöglichkeiten aus eigener Sicht heraus miteinbezieht“. Vollmer erkennt darin ein probates Modell, daß auch bei der Nato- Osterweiterung zur Anwendung kommen sollte. Ihr Fazit: „Tschechien, Ungarn und Polen müssen jetzt aufgenommen werden, das ist der Westen den Völkern dieser Länder und ihren politischen Führungen schuldig.“

Mit dieser Message, spötteln Lippelt und Co, seien die Grünen „auf der Ebene der hohen Staatskunst angekommen“, auch wenn „der Begriff Bündnis 90/Die Grünen in deinem Artikel kein einziges Mal vorkommt“. Sie stört vor allem, daß Vollmer zwar die erste Phase der Ostpolitik Anfang der siebziger Jahre lobe, deren zweiten Teil, die Nachrüstungspolitik der Ära Schmidt, jedoch ignoriere. Wegen des sozialdemokratischen Tenors mutmaßt mancher in der bündnisgrünen Fraktion schon den SPD-Ostpolitiker Bahr als heimlichen Co-Autor der Vollmerschen Laudatio. „Undifferenzierte Glorifizierung der Entspannungspolitik“, diagnostiziert das Realo-Trio. Ludger Volmer macht sogar „eine Beleidigung für alle, die in der Friedensbewegung gegen den Nato-Nachrüstungsbeschluß gekämpft haben“, aus. Antje Vollmer, resümiert Ludger Volmer, habe „in der wichtigsten außenpolitischen Frage offensiv gegen die Partei Stellung“ genommen, das wolle er nicht mehr tolerieren.

Die Aufregung über den Aufsatz der Vizepräsidentin kommt nicht von ungefähr, hat sie mit ihrem offensiven Eintreten für eine Osterweiterung der Nato doch öffentlich eine Kontroverse angestoßen, in der die Fraktion ähnlich zerstritten ist, wie sie es bei der Frage der Bosnien-Einsätze war. Bereits im Sommer vorigen Jahres standen sich Gegner und Befürworter einer Osterweiterung unversöhnlich gegenüber. Während die einen sich in ihrer prinzipiellen Ablehung auf die Beschlüsse der Partei berufen konnten, verwiesen die anderen auf das Sicherheitsinteresse der beitrittswilligen Länder und die faktischen Fortschritte der Nato-Ausdehnung. Da sie sich auf keine einheitliche Position einigen konnte, schwieg sich die Fraktion zu dem Thema erst einmal aus und machte eine Anhörung.

Der sicherheitspolitische Burgfriede geht allerdings zu Ende, denn am Freitag wird das Plenum des Bundestages über die Osteuropa-Politik der Bundesregierung beraten, eine weitere Debatte ist im März geplant. Für Ludger Volmer ist damit der Zeitpunkt gekommen, eine eigene Resolution der bündnisgrünen Fraktion einzubringen. Weiter zu schweigen wäre „außenpolitisch ein Desaster“, so Volmer, schon jetzt habe die Blockadepolitik der Realos die Fraktion in eine unhaltbare Situation manövriert.

Ein von ihm formulierter Entwurf läuft auf eine strikte Ablehnung der Osterweiterung hinaus, denn die würde „in Rußland das Feindbild erst wieder schaffen, gegen das angeblich Sicherheit verfügt werden muß“. Jede europäische Sicherheitspolitik brauche eine „Sicherheit mit Rußland“. Die Nato-Erweiterung solle aber eine „Sicherheit vor Rußland“ bringen. Dadurch würden „Zonen unterschiedlicher Sicherheit“ geschaffen.

Diese Gefahr erkennt auch Lippelt. Allerdings meint er, daß dem durch ein Vertragssystem begegnet werden könne, das die Nato- Erweiterung begleitet und das alle Staaten gleichermaßen einbezieht. Die Nato trage wesentliche Verantwortung für den jetzt notwendigen Integrationsprozeß. Lippelt geht davon aus, daß der Aufnahmewunsch der mittelosteuropäischen Staaten so legitim wie berechtigt sei. Rußlands Vorbehalten müßte durch einen Vertrag mit der Nato als auch durch die Entwicklung eines europäischen Sicherheitssystems Rechnung getragen werden. Auch Lippelt will einen entsprechenden Antrag vorbereiten. Damit droht wieder die klassische Kontroverse zwischen friedenspolitischen Grundsätzen und realpolitischen Erfordernissen.

Nun sieht allerdings auch Volmer, daß es „Realität und Rahmen unseres Handelns“ ist, „sollte die Nato irreversibel nach Osten expandiert sein“. Er möchte jedoch vorher noch mal „laut und vernehmlich nein gesagt haben“. Genau das, so fürchten manche Realos, könnte den Grünen im Wahlkampf als Ausweis außenpolitischer Unreife angelastet werden, sollte es bis zum Sommer gar zu einem Agreement mit Rußland über die Osterweiterung kommen.