Vor dem nächsten Ansturm

An der Algarve spielt sich das einheimische Leben in den Wintermonaten ab, im trockenen Sommer erstirbt es. Dann gibt es nur noch Urlauber  ■ Von Jens Holst

Al Gharb, Land des Sonnenuntergangs, hatten die Araber einst den südlichsten Teil des heutigen Portugals genannt. Von Afrika kommend eroberten sie in wenigen Jahren fast die gesamte Iberische Halbinsel. Mehrere Jahrhunderte lang kultivierten sie die Algarve, legten Terrassen an und schufen ein ausgeklügeltes Bewässerungssystem mit Ziehbrunnen, Schöpfrädern und einem verzweigten Kanalsystem. Als die Portugiesen 1249 Al Gharb eroberten und die Mauren niedermetzelten oder versklavten, ließen sie deren technologische Meisterwerke unangetastet. Mehr als 700 Jahre deckte es den Wasserbedarf der Menschen in dieser Region. Erst die letzte Invasion der Algarve, die der sonnenhungrigen Urlauber aus dem Norden, ließ in den achtziger Jahren die Wasserversorgung zusammenbrechen.

Anfangs vorwiegend auf dem Landweg, später zunehmend aus der Luft kamen Heerscharen von Touristen in eins der letzten unentdeckten Urlaubsparadiese Westeuropas. Dabei überrascht rückblickend nicht so sehr, daß sie kamen, sondern daß sie so spät kamen. Denn mit ihrer Bilderbuchsonne, der glasklaren See, der malerischen Kulisse bizarrer Felsformationen und ihren hellen Sandstränden gehört die Algarve zu den schönsten Landstrichen des Kontinents. Wie konnte diese einzigartige Landschaft so lange dem Ansturm des europäischen Fremdenverkehrs standhalten und vor den Konsumenten einer unaufhaltsam expandierenden Tourismusindustrie geschützt werden?

Möglich machte es eine der längsten und härtesten Diktaturen Europas. Die Starrköpfigkeit und der krankhafte Geiz von António de Oliveira Salazar, der das Land bis 1970 ununterbrochen 36 Jahre lang mit eiserner Hand regierte, vermied Investitionen in die touristische Infrastruktur. Modernisierung war ihm ebenso ein Greuel wie die immer knapper werdende Bademode, die in den längst betonisierten europäischen Ferienzentren wie Rimini, Nizza und Benidorm unaufhaltsam Einzug hielt. Nur weil er Geld für die blutigen Kolonialkriege in Afrika brauchte, hatte sich Salazar auf eine Nobelvariante des Tourismus eingelassen. Ein exklusiver Kreis von UrlauberInnen bezahlte in erlesenen Hotels und Gasthäusern mit abenteuerlichen Preisen den anachronistischen Versuch eines greisen Diktators, eine lange untergegangene Kolonialmacht am Leben zu halten.

Vier Jahre nach seinem Tod übernahm eine Gruppe linker Offiziere nach der „Nelkenrevolution“ am 25. April 1974 die Macht. Gleichzeitig mit der Demokratisierung im Inland setzten sie dem unrühmlichen Treiben auf dem schwarzen Kontinent ein Ende. Die Algarve erfuhr kurzzeitig eine völlige Umkehrung der Sozialstruktur und wurde zum letztenmal von PortugiesInnen erobert: Die Reichen blieben weg, es kamen die Armen. Mehr als 700.000 HeimkehrerInnen aus den verlorenen Kolonien, die mittellos nach Portugal zurückkehrten, mußten untergebracht werden. Die Revolutionsregierung beschlagnahmte kurzerhand Luxushotels, bis viele auf der Suche nach Arbeit und Brot weiter nach Nordeuropa zogen. Andere blieben und beteiligten sich an der Industrialisierung der Küstenregion.

In den Wintermonaten ist von der unheilvollen Entwicklung der letzten Jahrzehnte weniger zu spüren als in jeder anderen Zeit des Jahres. Selbst in den Hochburgen des Tourismus entlang der Küste befinden sich die UrlauberInnen aus nördlichen Gefilden im Januar und Februar in der Minderheit. Unschwer sind sie an der leichten Kleidung zu erkennen. Die sommerlichen Shorts der britischen Touristen wirken etwas deplaziert zwischen den Pelzmänteln und Wollpullovern der einheimischen Bevölkerung. Derart verschieden nehmen Nord- und SüdeuropäerInnen die frühlingshaften Temperaturen zwischen 17 und 20 Grad wahr. Es regnet häufig, doch an der Algarve ist nichts von den katastrophalen Überschwemmungen zu spüren, die den Rest des Landes wochenlang in Atem halten. Reife Orangen und Zitronen hängen an den Bäumen und warten darauf, abgeerntet und die umgekehrte Reiseroute wie die meisten UrlauberInnen zu nehmen. Blumen blühen, ein intensives Grün beherrscht das Landschaftsbild. Hier scheint es genau andersherum zu sein als im kalten Norden: Das einheimische Leben spielt sich in den Wintermonaten ab, im heißen und trockenen Sommer erstirbt es. Dann gibt es nur noch eins: Massen von Urlaubern, die sich wie die Ölsardinen an den wunderschönen Stränden drängen.

Vielerorts wurde die Steilküste aus rotem und gelbem Sandstein mit überdimensionalen Hotelanlagen zugebaut, die schönsten Buchten und Strände mit Restaurants verschandelt. Hochhäuser prägen das Bild in Capoeira, Alvor und Praia de Rocha. Doch im regnerischen Winter gelingt es diesen Produkten einer landschaftszerstörenden Architektur, auch die ablehnendste Haltung gelegentlich aufzuweichen. Wer abends als einziger Gast im Restaurant an der Praia d'Ana bei Lagos sitzt, das sich klotzig in die kleine Sandbucht eingenistet hat, vergißt kurzzeitig sein Erschrecken über diese Architektur. Während der Regen gegen die Scheiben prasselt und tief unten die Wellen des grünfarbenen Atlantik unaufhörlich gegen die Felsen prallen, bringt der Kellner frischen, vorzüglich gegrillten Fisch. Zwischendurch verzieht sich die dreiköpfige Belegschaft kurzerhand in einen Nebenraum, um das verführerisch duftende Hähnchenfleisch zu verputzen, das die Köchin wenige Minuten zuvor vorbeigetragen hatte.

Die größte und gleichzeitig ärmste Provinz Portugals, in der jahrhundertelang rechtlose Tagelöhner für schlechte Bezahlung die Korkeichen entrinden und Oliven ernten mußten, war das Kernland der Nelkenrevolution, die den Weg der ehemaligen Kolonialmacht zu einer modernen Gesellschaft einleitete. Bis heute ist der Alentejo die rückständigste Region Europas, obwohl Portugal seit dem Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft vor zehn Jahren erheblich aufgeholt hat. Die Arbeitslosigkeit liegt mit 11,8 Prozent deutlich über dem Landesdurchschnitt, viele Arbeiter auf dem Lande erhalten nicht einmal den gesetzlich vorgeschriebenen Mindestlohn von 520 Mark im Monat. Nur 50 Kilometer von den Konglomeraten einer ungezügelt expandierenden Tourismusindustrie entfernt beginnt das dörfliche Portugal.

Beispielsweise Serpa, ein malerischer Ort direkt an der EG-finanzierten Nationalstraße 121 nach Spanien. Für die Autoren von Karten wie von Reiseführern scheint die ehemalige Grenzstadt aus der Zeit der „reconquista“, des jahrhundertelangen Krieges der christlichen Europäer gegen die Mauren, offenbar kaum erwähnenswert. Schon von weitem erhebt sich die Befestigungsanlage über das flache Land. Die nahezu vollständig erhaltene Stadtmauer geht an einem Ende in ein vielbogiges Aquädukt über. Das Wasser wurde in großen Eimern aus einem Schöpfbrunnen heraufgepumpt und in die mittelalterliche Stadt geleitet. Durch zwei gewaltige Stadttore gelangt man in die verwinkelten Gassen mit ihren sauber geweißten Häusern und ornamentreichen Türen. Haupteinnahmequelle ist hier die Landwirtschaft. Der Tourismus spielt eine untergeordnete Rolle. Im Alentejo gilt immer noch ein anderer Rhythmus, trotz der zunehmenden Zahl von Neuwagen und handybewaffneter Anzugträgern.

Reiseführer:

Michael Müller: „Portugal inclusive Madeira und Azoren“. 1996, 557 Seiten, 36,80 DM

Johannes Beck: „Lissabon und Umgebung“. 1996, 465 Seiten, 36,80 DM