Hauptstadt der Blutrache

Die korsischste Stadt Korsikas wird das im Süden gelegene Sartène genannt. Der Inbegriff von Rache, Rausch und Leidenschaft soll zum Touristenmagneten im Landesinneren werden  ■ Von Jürgen Lutz

Immer am Karfreitag zieht die ganze Stadt von der Place Porta hinaus in die Dunkelheit der Nacht. Vor sich einen Mann in rotem Kapuzengewand. Er trägt ein schweres Holzkreuz auf den Schultern und eine Eisenkette an den Füßen. „U Catenacciu“, so heißt die auf Korsika bekannteste Osterprozession. „Le grand pénitent“, der Große Büßer, arbeitet dabei die kollektiven Sünden unter den Augen Tausender ab.

Und Sünden gibt es in Sartène genug. Das weiß Europa spätestens seit Prosper Mérimée. Die blutige Schauernovelle „Colomba“ aus dem 19. Jahrhundert kochte eine fast begrabene Familienfehde wieder hoch und verlieh Sartène den Titel „korsischste Stadt Korsikas“. Die 3.000-Seelen- Gemeinde gilt seither als Hauptstadt der Vendetta, als Kapitale der Blutrache. Inzwischen schlachtet jeder Reiseführer dieses Klischee aus, keine Werbebroschüre verzichtet auf Grausen und Gänsehaut. Sartène, steingewordener Inbegriff für Rache, Rausch und Leidenschaft, soll zum Touristenmagnet werden. Sagen die Verantwortlichen im Fremdenverkehr. Bislang hapert es jedoch noch mit der Anziehungskraft. Sonne und Strand an der nahegelegenen Küste bei Propriano sind harte Konkurrenten für eine Stadt, die zunächst Schweigen und Bedrohung ausstrahlt.

Als hätten Riesen die alten Häuser geformt und sie dann zum Vergnügen ineinander verschachtelt. Im Stadtteil Manichedda stemmen sich die graubraunen Bauwerke dem Himmel vier, fünf, manchmal sogar sechs Stock hoch entgegen. Die Fensterläden dieser Schanzburgen sind verrammelt, Tore und Türen geschlossen. Nur selten dringt ein Ton durch die Mauern, zwischen den Fenstern baumelt Wäsche. Darunter verlieren sich nahezu menschenleere, verwinkelte Gassen, führen in die Irre. Man ahnt, daß die Zeiten hier nicht immer gut waren.

„Ihr Anblick atmet Krieg und Rache“, schrieb Paul Valéry über die Stadt an den Berghängen des Rizzanèse-Tals. Valéry kannte sich aus, er stammte aus Korsika. Kein Wunder, daß der Griff zu Gewehr oder Messer auch heute noch näher liegt als der Ruf nach den Gendarmen. So erregt auch der Bürgermeister, der kürzlich freilaufende Kühe erschießen lassen wollte, anstatt sie hinters Gatter zu sperren, kein Aufsehen. Wie sollte er auch, wenn die Sprengladung für das Gebäude des Konkurrenten an der Küste zur „Geschäftspolitik“ schöngeredet wird?

Zwei Mythen, der archaische und der revoltierende, vermischen sich in der korsischen Vendetta. Der archaische: Ehrverletzungen können nur durch Blutopfer gesühnt werden. Der Mythos des kolonisierten und revoltierenden Volkes: Die Justiz ist korrupt und die Gerechtigkeit käuflich. Besatzer, die das demonstrierten, gab es zuhauf: Phönizier, Phokäer, Etrusker, Syrakuser, Ligurer, Hispaner, Karthager und schließlich die Römer nahmen die Insel in Besitz. Dann fegten Vandalen, Goten, Byzantiner, Sarazenen, Pisaner durchs Land, gefolgt von den Genuesern, die die Insel sechs Jahrhunderte in ihrem Griff hielten. 1769 schließlich verkaufte Genua Kalliste – die Schönste, wie der Romancier Guy de Maupassant Korsika nannte – an Frankreich.

Jeder Besatzer brachte seine Herrschaft, sein Recht und seine Regeln mit. Die Korsen mußten sich unterwerfen. Gefragt wurden sie nie – weder nach ihrer Meinung und erst recht nicht nach ihren Gefühlen. Bald war die Selbstjustiz das gängige Mittel, um sich das Recht zu verschaffen, das man sonst nirgends bekam.

Antoine ist kritisch. Zahlreiche Stirnfalten und ein eindringlicher Blick unter den dunklen Haaren deuten das an. „Sartène, das war lange Zeit ein Bollwerk gegen die korsischen Unabhängigkeitsbestrebungen“, erzählt er mir in der Kneipe A Sirinata. Bis ins 19. Jahrhundert habe die politische, wirtschaftliche und damit auch rechtliche Macht in den Händen der Großgrundbesitzer gelegen. „Die Sgios, die Herren, hatten ihren eigenen Bürgersteig, und auf der Place Porta durfte sich das gemeine Volk erst gar nicht aufhalten.“ Wenn es doch jemand tat oder aus einem anderen Grund die Ehre einer anderen Sippe verletzte, mußten die Familienmitglieder dies rächen. Nirgends sonst in Korsika sei die Blutrache, die Vendetta, so lange ein Mittel für die Lösung von Konflikten gewesen wie hier im Süden der Insel.

„Ganze Straßenzüge haben sich bekämpft“, schildert der Sartenese das Ausmaß des Sippenhasses. Hunderte starben, denn die Vendetta endete nicht mit der Tötung dessen, der die Ehre eines anderen angekratzt hatte. An seinen Platz trat nun ein anderes Familienmitglied, der Ehrenhändel breitete sich auf die verfeindeten Gruppen aus. Sühne wurde erst erreicht, wenn eines der beiden Lager, sprich sein männlicher Teil, ausgelöscht war.

Die „Kulturpraxis“ Vendetta ist offiziell seit Jahrzehnten ausgelöscht. Doch Antoine ist sich sicher: „In der Politik und auch im Geschäft lebt die Vendetta weiter – selbst wenn wir das nicht wahrhaben wollen. Oft fliegen nur Sachen in die Luft, aber manchmal fließt auch Blut.“ Früher hat Antoine bei einer Regionalzeitung gearbeitet. Termine auf der gesamten Insel, Berichte, Fotos, Hetze – alles für ein Gehalt, „für das andere hier keinen Finger mehr rühren würden“. Die anderen, das sind für ihn vor allem die Festlandfranzosen, „die mit Ferienhaus hier und Penthouse in Paris oder Marseille“. Sein Job machte ihm Spaß. Zumindest so lange, bis in der Redaktion bekannt wurde, daß er mit den militanten Nationalisten sympathisiert hatte. Das war das Ende seiner Karriere bei dem Blatt. Seitdem hält sich Antoine mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser. „Mehr schlecht als recht.“ Von der nationalen Befreiungsfront Korsikas hat er sich inzwischen distanziert. Sagt er.

In den 70er Jahren hat sich der Widerstand gegen die Pariser Zentralmacht gespalten. Auf der einen Seite stand die korsische Befreiungsfront FLNC, die ihre Forderung mit Anschlägen auf französische Banken, Büros und Ferienzentren unterstrich, auf der anderen die Union des korsischen Volkes, UPC. Letztere machte sich auf legalem Weg stark für die Selbstverwaltung Korsikas innerhalb Frankreichs und die Entfaltung der korsischen Sprache und Kultur. Allerdings war es mit der Autonomie, wie sie sich die UPC unter Edmond Simeoni vorstellte, bis 1982 nicht weit her. Erst unter Mitterrand erhielt Korsika ein Sonderstatut. Damals gestand die Linke in der Pariser Nationalversammlung der Insel das Recht zu, sich frei zu verwalten. Ein Regionalparlament sollte diese Aufgabe übernehmen. Doch das Statut brachte bislang weder das Ende der Gewalt noch die Lösung der politischen und wirtschaftlichen Probleme. Ersteres zeigt die Zahl der Toten: Über 50 Menschenleben hat die Spirale der Gewalt auf Korsika seit 1994 gekostet. Hinter den offiziellen Streitereien zwischen den einzelnen Gruppen und dem Kampf gegen Staat und Bevölkerung kann Antoine nur eine Frage erkennen: „Wer darf die Revolutionssteuer bei den Unternehmern erheben? Das ist der Knackpunkt“, sagt er. Jacques Coeffé, Präfekt der Region Korsika, meinte in einem Interview mit der französischen Tageszeitung Le Monde: „Die Sache wird erst an jenem Tag aufhören, an dem es keine Kämpfer mehr gibt.“ Vielleicht ist es Paris nicht so unrecht, wenn sich die unbequemen Nationalisten gegenseitig den Garaus machen.

Rückhalt in der Bevölkerung haben die Militanten nur noch bei einem oder einer von zehn KorsInnen. Da nützt es auch nichts, daß sie ihre Gesichter hinter Strümpfen verstecken und mit MPs in der Hand zum Pressegespräch in die Macchia laden. Früher war das etwas anders: Korsen, die nicht vom Tourismus profitierten, lachten sich mehr oder weniger still ins Fäustchen, wenn in einer „blauen Nacht“ ein illegaler Hotelrohbau oder das Ferienhaus eines betuchten Festlandfranzosen in die Luft flog. Inzwischen haben die meisten auf irgendeine Weise am Fremdenverkehr teil. Doch blaue Nächte gibt es weiterhin. Oft ist es ein Unternehmer, der ein paar Jungs anheuert, um seinem Konkurrenten unter dem Deckmantel des Nationalismus zu schaden. In solchen Momenten macht sich landesweit Besorgnis breit. Vor kurzem erst entgingen Dominique Bucchini, der Bürgermeister von Sartène, und sein Sohn nur knapp einem Mordanschlag.

Der Grund: Bucchini gehört zu den seltenen Exemplaren im Establishment, die die Verfilzung von Nationalismus, Banditentum und lokaler Klientelpolitik öffentlich anprangern. Ein Sozialwohnungsbau, eine Turnhalle, ein Bürogebäude, ein Brunnen und das Rathaus von Sartène wurden nacheinander das Ziel von Bomben. Das macht sich nicht gut, wenn fast ein Viertel der Inseleinkünfte vom Tourismus abhängt – und dieser auch von Geldern aus Frankreich und der Europäischen Union. Insgesamt sieben Milliarden Francs an Subventionen fließen jährlich nach Korsika. Ein Großteil dieser Summe werde investiert, meint Antoine. Der Rest jedoch fließe in den Ausbau politischer Loyalitäten und Seilschaften. Der öffentliche Dienst ist dafür das geeignete Feld. Nirgendwo sonst im französischen Sechseck gibt es soviel Staat wie auf dem Eiland: Ein Viertel der Beschäftigten hat dort sein Auskommen, auf hundert Bürger kommt ein Polizist. 250.000 Korsen leisten sich 4.200 Mandatsträger in den Gemeinde- und Departementsversammlungen sowie im Regionalparlament.

Wer es auf Korsika zu etwas bringen will, braucht gute Beziehungen und für deren Pflege wiederum Geld. „Le service rendu“ nennt man das hier. Mit dieser „Hand wäscht Hand“-Methode haben sich die alteingesessenen Machtzentren Korsikas im stillen Einvernehmen mit Paris eine ihnen passende Struktur geschaffen: „Im Süden Rocca, im Norden Giacobbi“, sagt Antoine. Als Gegenleistung halten die ehrenwerten Familien die separatistischen Bewegungen in Schach. Aber nicht so sehr, daß diese keine Hand mehr frei hätten, um eine Bombe zu zünden. Das zeigen die Attentate auf dem französischen Festland: In Bordeaux, Aix, Nimes, Lyon detonierten Sprengsätze.

So machen sich die mächtigen Clans unentbehrlich für Paris, das eher die korsische Sprache verbot, als hart gegen Bombenleger durchzugreifen. Das Geschäft aus Politik und Terror scheint sich zu lohnen: Den Nationalisten gehören inzwischen zahlreiche Kasinos, Bars, Unternehmen und flotte Wagen. Früher kämpften sie gegen Korruption und für Souveränität.

Draußen knallt die Sonne. Antoine und ich fahren zu den Ausgrabungsstätten im Umland, die ebenso geheimnisvoll und unnahbar wirken wie Sartène. Torreaner und Shardanen werden die Kulturen genannt, die das Sartenais bereits vor 8.000 Jahren bevölkerten. In Filitosa, einem kleinen Ort rund um die gleichnamige Ausgrabungsstätte, ist Schirmherr Jean- Dominique Cesari leicht aufzuspüren. 1946 entdeckte sein Vater auf dem Privatbesitz zahlreiche Skulpturen prähistorischer Krieger. Glück für den in die Jahre gekommenen Sohn. Er verbringt seine Tage nun beim Backgammon in der Dorfbar. Filitosa, das sei etwas für Geduldige und für Menschen mit Zeit, schränkt Cesari gleich zu Beginn ein. Auf einem Areal von mehreren Dutzend Hektar blicken leere Kriegeraugen auf Felsenwohnungen und eingestürzte Türmchen. Schilder weisen den Weg oder erklären, wie es vor Jahrtausenden zugegangen sein mag. Vor den Türmen sollen einst Opfergaben dargebracht worden sein. Kein gesäuberter Rasen, sondern natürlicher Wildwuchs umrahmt die Menhiranlage von Paglaghju, einige der Steinfiguren liegen flach. Eine halbe Stunde sind Antoine und ich den Pfaden durch die blühende Macchia gefolgt, vorbei an einer Ferienanlage mit Swimmingpool. Nun sitzen wir unter einem knochigen Olivenbaum, froh über den wenigen Schatten, und betrachten die Symbolwerke aus der Frühgeschichte. Ob ich wüßte, was Korsen und Menhire gemeinsam hätten, fragt mich mein Begleiter. Als ich verneine, hebt er die Augenbrauen und sagt: „Beide sind stumm.“