Spielball fremder Hoffnungen

■ Kazuo Ishiguro stellt heute sein neues Mammutwerk „Die Ungetrösteten“, ein Roman über die plötzliche Ungültigkeit von Dimensionen und persönlichen Beziehungen, in Hamburg vor

Schon nach wenigen Seiten beginnen die Dinge völlig aus den vier Dimensionen zu laufen. Da steht der Pianist Ryder mit dem Hoteldiener Gustav im Aufzug, und es geschieht, daß bei der Fahrt über zwei Stockwerke der Kofferträger dem Star seine halbe Lebensgeschichte erzählen kann. Dann ist da plötzlich noch eine Person, die vorher nicht anwesend war, aber jetzt dem Pianisten von seinem umfangreichen Terminkalender erzählt, von dem er nichts weiß und gegen den er nur aus Verwirrung und Höflichkeit nicht einschreitet.

Das hätte er aber besser getan, denn nun entfalten sich Erzähl- und Erlebnisstrukturen, gegen die Einsteins gekrümmter Raum ein leicht verständliches Baukastenprinzip ist. Denn auch Orte sind hier eher das, was sie in Träumen sind. Nach endlosen Autofahrten betritt Ryder eine Galerie mitten in der Wildnis, deren Hintereingang zu seinem Hotel in der fernen Stadt führt. Fortlaufend wird weit gefahren, um nah anzukommen, die gewohnte Aufnahme räumlicher Beziehungen mißlingt dem Pianostar zu seiner eigenen, aber stets nur kurzzeitigen Überraschung fortlaufend, und auch Zeit bleibt immer teigig und dehnbar. Ein Sonnenuntergang kann da schon mal viele Seiten – und somit normalerweise Stunden – der höchst stringenten Erzählung dauern. Doch daran gewöhnt man sich.

Etwas schwerer fällt die emotionale Anpassung an das Prinzip der Neubekanntschaft mit lange Gewohntem – oder scheinbar lange Gewohntem? Denn offensichtlich kommt Ryder zu Beginn des Buches in einer ihm unbekannten Stadt lediglich an, um ein Konzert zu geben. Doch schon seine fünfte Bekanntschaft von sehr vielen folgenden ist eine fremde Frau, die wohl seine Lebensgefährtin ist, mit ihrem Sohn, ganz offensichtlich seinem Ziehsohn. Ryder dämmert im Laufe der Handlung immer einiges, Erinnerungsfetzen kehren zurück, aber weder stellt sich echte Vertrautheit her, noch führt eine Erinnerung dazu, daß weitere folgen oder sich plötzlich Zusammenhänge entblättern würden.

Kazuo Ishiguros Roman Die Ungetrösteten ist eine endlose Narretei des menschlichen Gedächtnisses und als solches gefühlsmäßig anstrengend. Denn Ryders „Vergeßlichkeit“führt dominoartig dazu, daß er eine schreckliche Enttäuschung nach der anderen produziert. Vollständig kontrolliert von den allzu menschlichen Ansprüchen fremder Bekannter, die sich alle selbstverständlich auf Verabredungen mit ihm berufen, die Ryder nicht präsent sind, und höchst persönliche Gefälligkeiten von ihm erbitten, denen er sich nie versagen kann, durchzieht das Leid des ewigen Zuspätkommens, der hochgeschwindigen Dauerüberforderung seinen Besuch in der namenlosen Stadt.

Hier, wo sich alles nur um die kulturelle Repräsentation zu drehen scheint, die ein hochrangiger Musiker für die örtliche Nomenklatura bedeutet, durchlebt Ryder den Alptraum des Berühmten, der das Eigentum der Öffentlichkeit wird – und ohne natürlichen Schutz von ihr mißbraucht werden muß.

Die Tyrannei der Höflichkeit, die Abwesenheit des Langzeitgedächtnis-ses und das schwammartige Aufsaugen der ihm zugedachten Aufgabe durch Ryder führt zu einem Strudel an Ereignissen, an deren Ende der Heilsbringer, der die große Krise der Stadt lösen soll, einer unbekannten Bösartigkeit erliegt. Diese Bösartigkeit ist der subtile Gegenspieler des irrenden Pianisten im ganzen Roman.

Ryder selbst, obwohl als Ich-Erzähler gestaltet, ist nicht besonders sympathisch. Man vermißt sowohl Herzlichkeit als auch Momente von Schwäche, die einen für die Person des Gejagten einnehmen könnten. Dadurch entsteht die kalte Distanz des Riesenwerkes, die den Leser in der Schwebe des ewigen Unwissens und der Neigungslosigkeit beläßt. Trotzdem ist Die Ungetrösteten spannend und in seiner Variation des Enttäuschungsthemas von höchst konzentrierter Komplexität. Mit dem Mitteln des surrealistischen Films und der entlastenden Absurdität von Träumen konstruiert der in Nagasaki geborene Engländer, dessen letzter großer Erfolg Was vom Tage übrigblieb verfilmt und mit dem Booker-Prize ausgezeichnet wurde, hier ein Szenario, das nicht für Menschen geschrieben wurde, die leicht in Panik geraten. Denn an der Schwelle zur Panik rast dieser Text durch seine 736 Seiten. Till Briegleb Kazuo Ishiguro: Die Ungetrösteten; 736 S., Rowohlt, 49,80 Mark Lesung: heute abend, 20 Uhr, Literaturhaus, Schwanenwik 38