Point & Click
: Ein Hotlink führt zu Feministinnen

■ Der Text als frei verfügbares Gewebe aus lauter Zitaten: Eine CD-Rom über die amerikanische Alltagsgeschichte macht den Leser per Mausclick zum Autoren

Wer irgendwann einmal eine wissenschaftliche Arbeit geschrieben hat, weiß, daß akademische Texte einem Geflecht gleichen: miteinander verwobene Zitate, Quellenauszüge, Verweise. Die Fußnoten, in denen steht, woher die einzelnen Textbrocken stammen, geben dem Text sozusagen eine „zweite Dimension“. Statt einem linearen, eindimensionalen Fluß von a nach b haben solche Texte eine Metaebene aus Referenzen und Verweisen.

Daß jeder Text zitiert und daß jedes linguistische Zeichen aus dem Kontext genommen und in Anführungsstriche gesetzt werden kann, hat den Philosophen Jacques Derrida zu der Annahme gebracht, daß Text per se eine „Assemblage“ sei. In seiner „Grammatologie“ schreibt Derrida, der Text könne „aus jedem vorgegebenen Kontext ausbrechen und so eine unendliche Zahl von neuen Kontexten hervorbringen“. Der „Sinn“ eines Textes wäre dann nur noch eine mögliche Konstruktion in einer potentiell unendlichen Anzahl von Kontexten.

Der Hypertext auf CD-Rom oder im WorldWideWeb macht zur technischen Option, worüber die poststrukturalistische Sprachphilosophie in der Tradition Derridas nur spekuliert hat: Bei Hypertextdokumenten besteht quasi der ganze Text nur noch aus Fußnoten. Sie sind durch „Links“ miteinander verkettet, über die der Leser in relativer Freiheit von einem Textbaustein zum nächsten springen kann. Statt einer vom Autoren vorgegebenen Richtung – einer „Lesart“ – hat der Benutzer die Freiheit, sich selbständig durch den Text zu manövrieren. Dieses Potential von digitalisierten Dokumenten hat darum in den letzten Jahren zu euphorischen Annahmen über die emanzipatorischen Möglichkeiten von Hypertext geführt: Bei Hypertextdokumenten würde der Leser quasi zum Autoren des Textes, den er liest.

Bei „Who built America?“ kann man das Prinzip des Hypertextes in seiner Praxis besichtigen. Die CD-Rom, die jetzt auch für Windows-PC vorliegt, basiert auf einem zweibändigen Standardwerk zur amerikanischen Alltagsgeschichte um die Jahrhundertwende. Es beschreibt eine entscheidende Phase in der Geschichte der Vereinigten Staaten: die Umwandlung vom Agrarland zur modernen Industrienation. Neue Technologien wie die Eisenbahn, das Telefon oder das Kino, die in diesen Jahren erfunden wurden oder sich landesweit durchsetzten, veränderten das Gesicht der jungen Nation.

Die technische Revolution führte zu einer explosiven sozialen Situation: In diesen Jahren gab es brutalste Arbeitskämpfe. Radikale, neue politische Ideen wie Kommunismus, Anarchismus oder Feminismus verbreiteten sich. Und obwohl im Bürgerkrieg die Befreiung der Sklaven in den Südstaaten durchgesetzt worden war, blieb die Lage der Afroamerikaner keineswegs ungefährdet: Rassendiskriminierung und Lynchjustiz gehörten im Süden der USA nach wie vor zum Normalzustand.

Gleichzeitig strömte aus Europa ein nicht enden wollender Exodus von Emigranten in die Vereinigten Staaten, der das soziale Gefüge in den Großstädten an der Ostküste veränderte. In vielem erinnert die Situation der USA damals an die der Gegenwart.

Die CD-Rom „Who built America?“ erlaubt dem User nun den Zugang zu einigen der Quellen, aus denen die Autoren ihre Alltagsgeschichte geschöpft haben. Im Gegensatz zu einem Buch kann der Leser hier selbst sofort nachprüfen, wie die Autoren aus Tausenden von Dokumenten ihren Text „zusammengewoben“ haben. Der „Text“ dieser CD-Rom offenbart sich so als genau die Assemblage, die Derrida beschrieben hatte: Er besteht aus nichts als Zitaten – und zwar nicht nur aus sprachlichen, sondern auch aus multimedialen Zeichen, aus denen der Leser „seinen eigenen Kontext“ konstruieren kann.

Wenn wir von der Erfindung des Kinos lesen, können wir zu dem Stummfilmklassiker „The Great Train Robbery“ springen. Wenn im Text von den amerikanischen Suffragetten die Rede ist, gibt es einen Hotlink zu einem kurzen Film von Feministinnen, die auf der Fifth Avenue in New York demonstrieren. Und als es im Text um den Rassimsus der Südstaaten geht, kann man eine Originalaufnahme von einem Jungen hören, der die Lynchjustiz in Florida beschrieb.

Das Buch wird eine solche CD- Rom dennoch kaum ersetzen: Am Bildschirm kann man nicht so lange lesen wie in einem Buch, wenigstens nicht, ohne rote Augen zu bekommen. Mal abgesehen davon, daß der Computer im Bus oder in der Badewanne auch ein wenig unhandlich ist. Doch Hypertextdokumente erlauben es dem User, sich „hinter die Buchseite“ zu bewegen und sich seinen eigenen Text zu schaffen. Zu dem bei „Who built America?“ auch das erste Kreuzworträtsel der Welt gehört... Tilman Baumgärtel

American Social History Project (Roy Rosenzweig, Steve Brier, Josh Brown): „Who built America? – From the Centennial Celebration of 1976 to the Great War of 1914“, für Windows-PC oder MacIntosh, Voyager, zirka 90 DM