Der Bums der alten Tage

Sexshops, Luden, Uwe Seeler: Dagobert Lindlau hat eine fiktive Reeperbahn-Karriere niedergeschrieben. Mit Eva Matthes und Josef Bierbichler wurde die Kiez-Revue „St. Pauli Saga“ nun am Hamburger Schauspielhaus uraufgeführt  ■ Von Christiane Kühl

Die Vermarktungsmaschinerie funktionierte wie vaselinegeschmiert. Dagobert Lindlau hatte für den NDR eine Serie über eine fiktive Hamburger Kiezkarriere geschrieben, deren 600-Seiten- Script – „weil die Geschichte nach Theater schrie“ – dem Deutschen Schauspielhaus vorgelegt wurde. Während sich dort Regisseur Wilfried Minks und Dramaturg Wilfried Schulz an die Dramatisierung des Stoffes machten, hörte Lindlau die Geschichte offenbar schon wieder schreien. Und weil der ehemalige Chefreporter des Bayerischen Rundfunks nichts anbrennen läßt, schrieb er prompt das Buch zum Stück der Serie. Pünktlich zur Uraufführung seiner Kiez-Revue „St. Pauli Saga“ am vergangenen Samstag konnte der Verlag Hoffmann und Campe so die ersten 50.000 Exemplare des Romans „Straglers Woche. Eine St. Pauli Saga“ auf den Markt bringen.

Buch und Revue erzählen mit verschiedenen Mitteln dieselbe sentimentale Geschichte. Vom Nullpunkt 1945 an wird der Aufstieg des mittellosen Münchner Deserteurs Joseph Stragler (Josef Bierbichler) zum einflußreichsten Mann des Hamburger Kiezes geschildert. Seine Frau Vera (Eva Matthes) ermöglicht ihm diese Karriere: An ihren Titten, so erkennt Stragler schnell, können sich beide gesundstoßen. Erst vermietet er sie an britische Soldaten, später stript sie gewinnbringend vor der Hamburger Prominenz.

Straglers ebenso machiavellische wie simple Philosophie, daß „Frieden wie Krieg ist, nur daß auf eigene Rechnung gemetzelt wird“, kostet diversen konkurrierenden Luden und einem Bausenator das Leben. Was Stragler selbst das Genick bricht, ist jedoch nicht seine Überführung als Auftragsmörder, sondern „die neue Zeit“. Als er Anfang der Neunziger aus dem Knast kommt, haben die Russen den Kiez unter Kontrolle und machen seinem Traum vom gesamtdeutschen Bordell mit zwei Kalaschnikows ein schnelles Ende.

Das Stück, die begleitende Fotoausstellung von Günter Zint, die Texte im Programmheft und die Inszenierung teilen diese reaktionäre Grundaussage: Früher, da wurde auf dem Kiez noch ehrlich gevögelt und ehrenhaft gekillt. Minks Bühnenbild, das auf Projektionsflächen die sechziger Jahre durch die Beatles im Star-Club auf du und du mit dem Publikum verkörpern läßt, zeigt als Metapher für die Neunziger statische Bilder von seelenlosen Spielautomaten. Franz Wittenbrinks musikalische Arrangements rühriger 50er-Jahre-Schlager weichen Michael- Jackson-Interpretationen im kalten Stroboskopgeflacker. Und die leichten Mädels auf der Bühne versprühen in den letzten der 28 Bilder der Revue bestenfalls Fitneßcenter-Charme. Nichts mehr von wegen: „Wer noch niemals in lauschiger Nacht einen Reeperbahnbummel gemacht...“ – arme Wichte, das zeigt die Revue mit ihrem plakativen Ritt durch die deutsche Nachkriegsgeschichte, sind wir heute alle.

„Die Reeperbahn ist das Oktoberfest des Nordens“, läßt Lindlau einen der vielen erpreßbaren Senatoren im Stück sagen. Auch der Autor hatte im Vorfeld der Uraufführung immer wieder darauf hingewiesen, daß die Hamburger endlich einsehen sollten, „daß ihr St. Pauli nicht so einmalig ist, wie sie es gern hätten“. Wilfried Minks hat erkannt, daß man so keine Revue inszenieren kann, und ihr anständig Lokalkolorit beigemischt. Andererseits scheint er den Beweis führen zu wollen, daß das Deutsche Schauspielhaus nicht so einmalig ist, wie Kritiker und Publikum es gern hätten: Gezeigt wird eine komplett mittelmäßige Revue, die in jedem besseren Varietétheater schmissiger auf die Bühne gebracht worden wäre.

„Ich habe so viele moderne Stücke inszeniert, da wollte ich auch mal was Populäres machen“, begründet der Regisseur durchaus anzweifelbar seine Regie der „St. Pauli Saga“. Man mußte befürchten, von einer Überdosis Kiezklischees erschlagen zu werden, doch es kam schlimmer: Selbst die Hamburger Prominenz im Premierenpublikum wurde trotz ihres hanseatisch-diplomatischen Goodwills von einer Woge Langeweile ertränkt.

Ohne jeglichen dramaturgischen Bogen plätschert die Inszenierung im stakkatohaften Dialog- Song-Rhythmus ein wenig groove- und drivelos vor sich hin. Drei Stunden mögen für 45 Jahre Zeitgeschichte eine verdammt kurze Zeit sein – für eine skandal- und erotikfreie Kiez-Revue hingegen ist sie definitiv zwei Stunden zu lang. Da konnte auch das bemüht aktualisierte Ende nichts mehr retten: Stragler muß nach den Schüssen sterben, weil, wie soeben wirklich geschehen, das Hafenkrankenhaus im Viertel geschlossen wurde.

Im Gegensatz zur Vermarktungsmaschine lief die Theatermaschine schmerzhaft trocken. Doch Dagobert Lindlau, der Spezialist für organisiertes Verbrechen, gibt nicht auf: Gestern startete er in der Hamburger Morgenpost eine Serie zur „St. Pauli Saga“. Die wird nicht weiter interessieren. Und ein Theater, das die gesammelte Mannschaft des 1. FC St. Pauli zur Premiere ins Parkett setzt, aber vom Vorhang Uwe Seeler lächeln läßt, hat es nicht besser verdient.

„St. Pauli Saga – eine Kiez-Revue“ von Dagobert Lindlau. Regie: Wilfried Minks. Mit: Josef Bierbichler, Eva Matthes, Michael Wittenborn, Matthias Fuchs u.a. Deutsches Schauspielhaus Hamburg. Nächste Aufführungen: 5., 7., 16.3.