Hilflose Eltern, sinnesgeschwächte Kinder

■ Was die Schulen tun müssen, damit der Wirtschaftsstandort Deutschland nicht in einer Bildungskrise versinkt. Die Ratschläge des Pädagogen Peter Struck

Probleme mit Schulen und Schülern gibt es, seit es Schulen und Schüler gibt, und immer sind sie aktuell. Der neueste bildungspolitische Beitrag zum Problem erscheint in diesen Tagen beim Hanser Verlag in München. Der Hamburger Erziehungswissenschaftler Peter Struck faßt auf 320 Seiten alles zusammen, was derzeit die pädagogisch interessierte Öffentlichkeit bewegt. Vom „Stuhlkreis im offenen Unterricht“ über Pausenordnung und Personalhoheit bis hin zur Globalisierung und was sie für die Bildung bedeutet.

Auf wissenschaftliche Tatsachenfeststellungen ist der Text nicht begrenzt; denn Struck geht es vor allem um die Formulierung bildungspolitischer Forderungen. Sie sind von dem Gesichtspunkt motiviert, Schülern und Lehrern eine stärkere Stellung in der Schule zu verschaffen. Eine offene Schule soll den Schülern die Erfahrung eigenverantwortlichen Handelns vermitteln. Denn demokratische Tugenden kann man ihnen nicht dadurch nahebringen, daß man sie ihnen als Erziehungsziel ins Heft diktiert. Sie machen dann nur die Erfahrung eines Diktats.

Strucks Forderungen schließen an die entscheidenden Veränderungen des Bildungssystems an, auf die sich die Öffentlichkeit in den vergangenen Jahrzehnten geeinigt hat. Im Gegensatz zum liberalen Credo geht es im Text aber nicht darum, was die demokratische Öffentlichkeit will, sondern was das pädagogische Laienpublikum wollen soll. In den ersten Kapiteln des Bandes wird Eltern und Schülern zunächst die pädagogische Kompetenz abgesprochen. „Hilflose Eltern“ und „Sinnesgeschwächte Kinder“ lauten deren Überschriften. Zur Unvernunft des Publikums trügen nicht zuletzt die elektronischen Medien bei, der moderne Gottseibeiuns der Pädagogen.

Haben Schulmänner früher vor der sündhaften Auflösung standesgemäßer Bildung gewarnt, so zeigt Struck dem arglosen Publikum von heute, daß es in einer Orientierungskrise steckt. Das Wissen explodiere, die Welt werde „immer komplexer“ und „die objektiven Anforderungen immer härter“. Wer auf diese und andere flott vorgetragenen Warnungen nicht hören wolle, müsse fühlen, spätestens dann, wenn die zum Wirtschaftsstandort erklärte Republik in der Bildungskrise versinkt.

„Die Chance, wieder führend zu werden, besteht darin, Schulen und Hochschulen so umzubauen, daß lernpsychologische Erkenntnisse und solche der Hirnforschung verknüpft werden mit Strategien, die auch zum Wohlfühlen von Leib und Seele des Schülers führen.“

Die Wissenschaft meint es mit den zuvor Entmündigten also gut; sie sollen sich wohlfühlen. Aber warum die Schulentwicklung plötzlich nationalen Führungsansprüchen auf ökonomischem Gebiet folgen soll, wo sie bislang Gesichtspunkten liberaler Nationsbildung und der Menschenrechte folgte, wird ebensowenig erörtert wie der behauptete pädagogische Beitrag zur Hirnforschung.

Im Gegensatz zu den liberalen Absichten suggerieren diese Behauptungen vor allem: Die öffentliche Willensbildung und die Bildung des einzelnen können nicht frei sein, sondern haben sich Sachzwängen zu fügen. Aber was immer da als „zeitgemäß“, „komplex“, „dynamisch“, „vernetzt“ als „Wissensexplosion“ und so weiter vorgeführt wird, die Schüler folgen nicht objektiven Sachzwängen, sondern ihren eigenen Interessen: Sie sind auf Unabhängigkeit innerhalb und außerhalb ihres zukünftigen Berufs aus und nehmen dafür das Bildungssystem in Anspruch. Das tun sie auf der Basis der Grundrechte und nicht auf der von Expertenmeinungen, was den derart Ignorierten als öffentliche Orientierungskrise erscheinen mag. Gero Leonhardt

Peter Struck: „Erziehung von gestern, Schüler von heute, Schule von morgen“. Hanser Verlag, München 1997, 320 Seiten, 39,80 DM